Zu den skurrilsten Debatten, die hierzulande so geführt werden, zählt
zweifellos die über den Antisemitismus. Denn während Muslime an der
Islam-Debatte, Migranten an der Integrations-Debatte und AKW-Betreiber
an der Energiewende-Debatte partizipieren, nimmt an der
Antisemitismus-Debatte so ziemlich jeder, nur kein Antisemit teil. Ganz
gleich ob Linkspartei oder Günter Grass – kein Judenhass, nirgends.
Logisch, denn der moderne Antisemit würde sich erstens nie als solcher
outen, und bemerkt zweitens häufig nicht, einer zu sein.
Was natürlich nicht die generelle Abwesenheit von Antisemiten
bedeutet, ganz im Gegenteil. „Gerade wir als Deutsche“ haben schließlich
viel aus der Vergangenheit gelernt – auch, wie man politisch korrekt
gegen Juden zu Felde zieht. Insofern nehmen heute nur noch geschäftige
„Antizionisten“, „Israelkritiker“ oder „Kritiker der israelischen
Regierung“ mit imaginären jüdischen Freunden, Kindern oder gar Wurzeln
an der Debatte teil. Sie alle würden sicher auch mal
Antinordkoreanismus, Syrien-Kritik oder Kritik an der weißrussischen
Regierung betreiben, kommen nur leider nicht dazu, weil Israel ständig
mit Selbstverteidigung droht.
So auch Günter Grass, der Israel natürlich nur deshalb dämonisiert,
weil er sich dem Land „verbunden“ fühlt. Antisemit? Nicht doch. Meint
zumindest TE-Redakteur Martin Eiermann, der den „Antisemitismusvorwurf
an Grass“ für „absurd“ hält und die vermeintlich inflationäre Nutzung
dieses Begriffs ohnehin ziemlich doof findet. Denn „wildes
Loskeulen“, so der besorgte TE-Redakteur, führt letztlich zu
„Abnutzungserscheinungen“. Und: „Was bleibt uns eigentlich noch, wenn
wir es wirklich mit Judenhass zu tun haben?“
Aber: Wo fängt Judenhass nach Eiermann’scher Logik eigentlich an? Bei
Grass, einem SS-Mann, der aus „antisemitischen Motiven“ ein sogenanntes
Gedicht fabriziert hat, also schon mal nicht. Nun, dann vielleicht auf
der Gazaflotte, bei Hakenkreuzen auf jüdischen Friedhöfen oder
verprügelten Rabbis? Oder doch erst in Gaskammern, also bei toten Juden,
wobei es dann schon ein paar Millionen sein müssen? Man weiß es nicht,
und Herr Eiermann weiß es offenbar auch nicht so genau. Er weiß nur,
dass Antisemitismus ein „großes Wort“ ist, viel zu groß für Lappalien
wie delirierende SS-Männer. Und da Eiermann offenbar nichts mehr als
„Abnutzungserscheinungen“ fürchtet, ist es sicherlich klüger,
antisemitische Peanuts gar nicht erst zu beachten – dem Kampf gegen
„wirklichen Judenhass“ zuliebe, eh klar.
Allerdings gibt es natürlich noch andere Gründe für die Abschaffung
der Antisemitismuskeule. Martin Eiermann sorgt sich nämlich nicht nur um
den Verschleiß, sondern auch um die Debatte an sich, denn:
„[Kampfbegriffe] provozieren die eine Diskussion, um eine andere zu
vermeiden.“ Das stimmt. Denn wer sich mehr über Henryk M. Broder und
dessen vermeintliche Keule als über Günter Grass aufregt, der lenkt
selbstverständlich vom als Israelkritik kostümierten Antisemitismus ab
und spielt dem SS-Mann in die Hände. Worum es allerdings bei Eiermann
geht, ist die nachhaltige Bewahrung der Israelkritik vor der „Keule“.
Was durchaus lustig ist, denn Kritik an der Politik des jüdischen Staats
(oder bezieht sich Israelkritik tatsächlich auch auf Araber, Drusen und
Christen?) ist weder verboten noch unterrepräsentiert. Was zählt, sind Nuancen und Absichten.
Wer allerdings Israel Genozid am palästinensischen Volk vorwirft, das
zugleich seit Jahrzehnten stetig wächst, dem geht es nicht um Kritik,
sondern um die eigene Seelenhygiene.
Aber offenbar ist es gänzlich unvorstellbar, dass in solchen Fällen
tatsächlich Judenhasser mit von der Partie sein könnten, die etwas
geschickter als der NPD-Sympathisant vorgehen.
Dann schon lieber nach dem Motto: Besser einmal Antisemitismus zu viel,
als einmal Israelkritik zu wenig. Nicht, dass die Juden noch in alte
Muster zurückfallen. Denn Antisemitismus ist zwar eine furchtbare
Angelegenheit. Noch schlimmer allerdings ist es, wenn die Keule zum
Einsatz kommt. Dann nämlich drohen Verschleiß oder gar Verfall der
Debattenkultur. Und das kann die „Wir als Deutsche“-Fraktion ja nun
wirklich nicht verantworten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen