Die moderne Welt steckt voller Herausforderungen und ungelöster
Probleme. Das Klima will einfach das Wandeln nicht sein lassen, indes
wird in Syrien weiter gemordet, und mit der sozialen Gerechtigkeit geht
es hierzulande auch nur schleppend voran. Abseits dieser Ereignisse
existiert jedoch gerade innerhalb der westlichen Welt ein weiteres
Problem, das den Menschen ungeheuer zu schaffen macht. Und zwar: die
Freiheit als solche.
Dazu zählt beispielsweise die Entscheidungsfreiheit, von der überaus
ausgeschlafene Mitbürger wissen, dass sie es ist, die uns langsam aber
sicher in den Wahnsinn treibt. So auch die slowenische Philosophin
Renata Salecl. Man muss sie nicht kennen – es reicht schon, ihren
jüngsten Ausführungen zur „Tyrannei der Wahl“
zu folgen, um sie näher kennenzulernen. Denn weil wir immer und überall
wählen können, etwa in bzw. auf den Super-, Heirats- und Arbeitsmärkten
dieser Welt, würden wir uns ihr zufolge ständig gestresst, überfordert
und schuldig fühlen. „Kapitalismus ist die Neurose der Menschheit“,
behauptet Frau Salecl, die übrigens „Orte wie Subway“ meidet, um sich
bei der Wahl zwischen Cream-Cheese-Bagel und Panini con Pancetta nicht
der Gefahr eines Burn-outs auszusetzen. Die Tücken des „modernen
Kapitalismus“ machen eben auch vor aufgeweckten Philosophinnen nicht
halt.
Doch wie beruhigend, dass es innerhalb der westlichen Hemisphäre
schier unzählige Frau Salecls gibt, die uns über die Risiken und
Nebenwirkungen freier Gesellschaften aufklären. Etwa den Schriftsteller
Jochen Schmidt. „Der Kapitalismus umgibt uns mit Annehmlichkeiten, damit wir nicht über unsere entfremdete Arbeit nachdenken“,
so dessen Erkenntnis, wogegen „wir uns wehren müssen“. Dabei stören ihn
besonders die „gepolsterten Sitze“ in öffentlichen Verkehrsmitteln,
„die nur dazu da sind, dass wir auf dem Weg zu unserer entfremdeten
Arbeit nicht über das System nachdenken“. Lieber wären ihm die
„Holzsitze, in liebevoller Handarbeit angefertigt“, die man in den
S-Bahnen der guten alten DDR vorfand. Nur
musste man damals eben aufpassen, beim Grübeln über „das System“ nicht
erwischt zu werden – aber das kann einem Schriftsteller schon mal
entgehen.
Nun sollte man allerdings auf dem Gebiet des angewandten Labertums
ein bisschen fit sein, um entschlüsseln zu können, was genau die
Schmidts und Salecls an Polstersitzen und breiten Sandwich-Sortimenten
stört. Wobei das ebenso für diejenigen Mitbürger gilt, die seit Jahr und
Tag vor den Gefahren des „Konsumterrors“ warnen, der uns geistig
verwahrlosen lasse. Oder auch für solche Zeitgenossen, auf deren
Mitgefühl sich jede Gestalt, die gerade erfolgreich ein Terrorattentat
in den Vereinigten Staaten durchgeführt hat, verlassen kann, da jene ob
der „Arroganz und Schandtaten der westlichen Welt“ ja gar nicht anders
könnten. Was sind schon ein paar Tote, wenn man bedenkt, dass vielleicht
gerade am Rande eines US-Stützpunkts am Hindukusch ein Koran
versehentlich im Restmüll gelandet sein könnte? „Das sind die wahren
Skandale!“, mahnen die notorischen Selbstkritiker.
Sie alle eint dabei meist ein ganz ähnliches Krankheitsbild, dessen
primäres Symptom eine gewisse Abscheu bis hin zur Verachtung gegenüber
freiheitlichen Werten ist. Sie verachten den Konsum als Folge des
Kapitalismus, den Kapitalismus als Begleiter der Freiheit und damit
automatisch Wohlstand und Fortschritt als deren zwingende Konsequenzen.
Ein Krankheitsbild übrigens, dessen starke Verbreitung weder neu noch
überraschend ist. Schon immer gab es Menschen den gewissen Kick, nicht
die Missstände am anderen Ende der Welt, sondern die innerhalb der
eigenen Gemeinschaft – hier also der westlichen Hemisphäre – zu
kritisieren. Klingt einfach aufgeklärter und schonungsloser. So gesehen
hat der Westen nicht nur die meisten Innovationen, sondern auch die
höchste Anzahl an äußerst engagierten Selbstkritikern hervorgebracht.
Vor allem, weil die westliche Freiheit ihnen heftige Kritik erlaubt,
während etwa Islamkritiker aus islamischen Ländern öfter mal mit einer
Fatwa belohnt werden – doch das nur am Rande.
Denn den Kritiker der Freiheit motiviert nicht nur das Bedürfnis,
sich selbst in Szene zu setzen. Sein zumeist schlichtes und von
Überheblichkeit geprägtes Weltbild dürfte ebenfalls ursächlich sein.
Dieses gestaltet sich ungefähr so: Konsum hält uns vom Dichten und
Denken ab, die Amerikaner als Sinnbild des Westens sind ohnehin
kulturlos sowie böse Weltpolizei in einem, und Kapitalismus steht
zweifelsfrei für Wall Street, skrupellose Banker, gierige Broker sowie
ähnlich entsetzliche Dinge und Wesen. Der westliche Selbstkritiker an
sich, der Materialismus ohnehin gänzlich geistesarm und sich selbst
ungemein intellektuell findet, will damit freilich nichts zu tun haben.
Er distanziert sich, zumindest mit Worten. Und da der Kapitalismus noch
nicht durch ein anderes System abgelöst wurde, kann der Kritiker nur den
Rückwärtsgang einlegen. Das nennt er dann gerne mal „Entschleunigung“,
die sich in latenter Sympathie für Steinzeitgesellschaften (wie etwa den
Iran) und die letzten sozialistischen Systeme (bspw. das „romantische“
Kuba) ausdrückt. Denn dort gibt es wenigstens nicht so viel Profitgier,
noch weniger Kulturbanausen und gar keine Starbucks-Opfer. Und auch
sonst nicht viel Lebenswertes, was hier allerdings geflissentlich
ausgeblendet wird.
Dass der westliche Selbstkritiker dabei in der Regel selbst Profiteur
des „Systems“ ist, das ihm Wohlstand, Zugang zu Bildung,
Meinungsfreiheit und ein Smartphone garantiert, wäre überflüssig zu
erwähnen. Wobei natürlich auch er sich ausdrücken darf, soll und muss.
Ihm allerdings nicht zuhören oder gar folgen zu müssen, ist dabei ein
weiterer Vorzug freier Gesellschaften.
Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen