Mit der Deutschen Bahn ins erinnerungspolitische Niemandsland

Die Deutsche Bahn freut sich dieser Tage über Zuwachs. Der ICE 400, der in Bälde durch Deutschland rollen wird, bietet "umweltfreundliches und entspanntes Reisen gepaart mit hohem Kundenkomfort". Und weil der ICE 400 nicht irgendein Zug, sondern das neue Flaggschiff ist, werden die Züge auch nicht irgendwelche Namen, sondern Namen "deutscher historischer Persönlichkeiten aus den Bereichen Kultur, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Sport" tragen: Marlene Dietrich, Konrad Adenauer, Karl Marx, Hannah Arendt und Albert Einstein wären da zu nennen. Doch auch Anne Frank, die 1944 im Alter von fünfzehn Jahren von den Nazis nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde, soll ein Zug gewidmet werden, wie die Presseabteilung der Deutschen Bahn vorab verrät.

Nun ist es im Prinzip ohnehin schon mindestens gewagt, einen Zug der Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn nach Anne Frank zu benennen. Bei der Deutschen Bahn wollte man sich aber offenbar selbst übertreffen und legte sicherheitshalber noch eine Begründung oben drauf, die nicht minder beachtlich anmutet: „Sie [Anne Frank] steht für Toleranz und für ein friedliches Miteinander verschiedener Kulturen, in Zeiten wie diesen, wichtiger denn je.“ Das kann man freilich so sehen. Man muss eben nur die Augen ganz fest davor verschließen, dass es nicht „Multikulti“, sondern „der Jude“ war, der den nationalsozialistischen Wahn zuvorderst und bis zuletzt dominierte und in dem die Nazis nicht nur „minderwertiges Ungeziefer“, sondern gleichzeitig auch eine vitale, allumfassende Bedrohung für die deutsche „Volksgemeinschaft“ sahen. Das unterschied das „Weltjudentum“ vom „slawischen Untermenschen“, von Sinti und Roma und Behinderten, und es war dieser Wahn, den Saul Friedländer treffend als „Erlösungsantisemitismus“ bezeichnet, der die Deutschen schließlich dazu antrieb, sich qua Völkermord des „Weltjudentums“ zu entledigen.

Lässt man all das jedoch locker beiseite, dann kann man in Anne Frank tatsächlich eine handelsübliche Vorkämpferin der „Toleranz“ mit „Wir sind bunt“-Plakat sehen, in den Nazis wiederum leicht unsympathische Miesepeter, die halt einfach was gegen ein „friedliches Miteinander“ hatten, in der Shoa eine etwas aus dem Ruder gelaufene Auseinandersetzung zwischen "bunt" und "braun", und in der nationalsozialistischen Herrenmenschenideologie eine bloße Abneigung gegenüber „unterschiedlichen Kulturen“, die gar nicht erst genauer benannt werden müssen.

Aber vielleicht hat die Deutsche Bahn auch recht: Eine solche Erinnerungskultur ist in „Zeiten wie diesen“ womöglich wirklich „wichtiger denn je“. Denn ohne ein derart kreatives Geschichtsverständnis wäre der ICE Anne Frank schließlich nur halb so wohltuend für diejenigen, die ihn gerade stolz wie eine Monstranz vor sich her tragen.

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