CDU-Parteitag 2018: Play it again, AKK!

Reden wir für einen Moment mal nicht über Friedrich Merz. Erinnern wir uns lieber an Helmut Kohl, anno dazumal im Mai 1991. Der Kanzler der Wiedervereinigung tourt durch die blühenden Landschaften in spe und kommt bei der Gelegenheit auch in Halle vorbei. Dort empfangen ihn aufgebrachte Demonstranten mit Pfiffen und fliegenden Eiern. Mitten drin und vorn dabei ein örtlicher Jusos-Mann, der sich später noch auf sozialdemokratische Rückendeckung verlassen können sollte. Ein Jahr zuvor, der 2. Golfkrieg nahm gerade Form an, waren es wiederum grüne Parteigänger, die sich in wütender Sorge um den Weltfrieden bei Kohls vor der Haustür einfanden. „Kohl schickt unsere Söhne für die Ölscheichs in den Wüstentod“, stand auf ihren Transparenten - was natürlich nicht stimmte, dafür aber gut aussah und sich noch besser anfühlte.

Heute, 27 Jahre später, gratuliert Jürgen Trittin, Mitglied des Jürgen-Todenhöfer-Flügels der Grünen, Annegret Kramp-Karrenbauer zum neuen Amt als Vorsitzende der CDU und freut sich über die Niederlage des Schäuble-Merz-Duos ("Don't mess with Merkel"). Kurz zuvor erlitt die links geneigte Twitteria einen kleinen Herzinfarkt, nachdem Friedrich Merz in seiner Rede SPD und Grüne nicht wie gewohnt als willkommenen Koalitionspartner, sondern tatsächlich und ganz ohne Ironie als politischen Gegner identifiziert hatte. Ein Glück, dass dieses Schreckensszenario noch einmal knapp abgewendet werden konnte.


Nun ist es ohnehin eine eher stilllose Tradition, den weltanschaulichen Gegner mit Lebensmitteln zu bewerfen. Um den alt hergebrachten Brauch, zwischen Union und Sozialdemokratie noch ein wenig Platz für Unterschiede und Konflikte zu reservieren, ist es dagegen schon etwas schade. Dass diese Konflikte nach wie vor existieren, wurde selten deutlicher als in den letzten Wochen. Friedrich Merz ist der Mann, gegen den Martin Schulz 2017 in den Wahlkampf zog. Transatlantiker, wirtschaftsliberal und eine trockene Reibungsfläche auf zwei Beinen, die schon allein durch ihren Kontostand den gegnerischen Blutdruck in die Höhe treibt. Vor allem aber brachte Friedrich Merz etwas mit, das seinen beiden Kontrahenten abgeht: einen "Überbau", der vom tagespolitischen Kleinklein unberührt bleibt. Während AKK bisher durch clever komponierte Sowohl-als-Auch-igkeit auffiel und Spahn sich routinemäßig mal am Migrationspakt, mal an Englisch sprechendem Servicepersonal abarbeitet, ließ Merz ein gefestigtes Wertereservoire erkennen, aus dem er seine Haltung zu spezifischen Themen wie Russland, Marktwirtschaft, Europa und Migration ableitet.

Sein Versprechen, die AfD gleich zu halbieren, wirkte zwar etwas zu ambitioniert - wer schon mit gauländischer Moskau-Treue und nationalem Sozialismus nach Höcke'scher Art seinen Frieden gemacht hat, wird kaum für einen Merz die Segel streichen. Das macht aber nichts. Politische Inhalte stets am AfD-O-Meter zu messen, ist sowieso eine Unsitte. Es gibt Ideen, die per se klug und auch dann noch sinnvoll sind, selbst wenn sie an den Umfragewerten der AfD nichts ändern. Die Aktien-Idee des Friedrich Merz war beispielsweise so eine. Und eine Merz-Union wäre auch dann noch gut für die politische Landschaft gewesen, wenn sie "nur" 35% eingesammelt, dafür aber mehr Profil im Gepäck gehabt hätte.

Dass es die AKK-Sympathisanten, die früher mal grün bis rot wählten, mit der Unterscheidbarkeit in der Mitte nicht so haben, ist jedenfalls keine Überraschung. Wer heute Mitte bis Ende 20 ist, hat in seinem bewussten politischen Leben nur Angela Merkel erlebt. Viel Groko, viel Einigkeit, viel Eckenlosigkeit, die ihren Höhepunkt im hohen Norden findet, wo ein CDU-Mann öffentlich eine Koalition mit den SED-Nachfolgern durchspielt. Wer dazu noch einen Twitter-Account besitzt, läuft Gefahr, Politik einzig als Spiel zwischen "Gut" und "Böse" zu betrachten, das schon dann gewonnen ist, wenn man #wirsindmehr twittert und erfolgreich den Zugang zu einem AfD-Parteitag blockiert hat. Die Bilder eines CDU-Kanzlers, der von Linken mit Eiern beworfen wird (und mit an der Brille klebendem Eiweiß die Konfrontation sucht), müssen da zwangsläufig irritierend wirken. AKK wiederum verspricht schon allein durch ihren Stil, dass der Bundesrepublik Reibungseffekte dieser Art auch künftig erspart bleiben.

Dass aber die CDU selbst, zumindest ihre Delegierten, den Konflikt genau so verachten, ist vielleicht keine neue, dafür aber nach wie vor erstaunliche Erkenntnis. Mindestens so erstaunlich wie die Tatsache, dass beruflicher Erfolg und marktwirtschaftlich orientierte Ideen inzwischen auch schon innerhalb der Union als verdächtig gelten. Natürlich ist es bequem, wenn man mit (bzw. trotz) CDU-Parteibuch mit allen kann und sich weder mit Sozis noch mit Grünen streiten muss. Ein Friedrich Merz, der mit klarem Profil an der deutschen Oberfläche kratzt, unter der nach wie vor recht viele Konfliktlinien verlaufen, wäre da eindeutig zu anstrengend. Lieber noch eine Schondecke drüberlegen und hoffen, dass Diskrepanzen einfach verschwinden, solange man sie nicht anspricht. Mittelfristig wird es aber auch außerhalb der Union ziemlich sicher unbequem, wenn bestehende Konflikte nicht mehr in der Mitte, sondern zwischen den Rändern, nicht mehr zwischen Union und SPD, sondern mehr und mehr zwischen Alexander Gauland und Annalena Baerbock ausgetragen werden. Es steht zu befürchten, dass spätestens an diesem Punkt selbst ein schicker Hashtag nicht mehr sonderlich weiterhelfen wird.

Christdemokratische Tristesse, Symbolbild

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Jung, antisemitisch, ahnungslos

Nachdem es im Zuge der Midterm-Wahlen auch einige professionelle "Israelkritikerinnen" mit Migrationshintergrund aus der Demokratischen Partei in den Kongress geschafft haben, gingen insbesondere in den deutschen Medien reihenweise die Herzen auf. »Jung, muslimisch, Ureinwohnerin« klingt schließlich besser als »Jung, antisemitisch, ahnungslos«. Ein kurzer Kommentar über Identitätskitsch, Sympathie für den Terror und die Freude am Wegschauen, erschienen in der "Jüdischen Allgemeinen" (online):

"Bunt, Minderheit, weiblich und jung, mehr muss man gar nicht mitbringen, um deutsche Journalistenherzen höher schlagen zu lassen. Schließlich mutet das nicht nur schicker an als »alt, weiß und rüpelhaft«, es ist offenbar schon ein Wert an sich – vorausgesetzt, man begreift amerikanische Politik als eine Art »Mensch ärgere dich nicht«-Spiel zwischen Minderheiten und Frauen einerseits, die a priori »gut« sind, und weißen Männern andererseits, denen automatisch nicht zu trauen ist.

Betrachtet man die Neuzugänge aus dieser Perspektive, kann es sich bei den Antisemitismusvorwürfen freilich nur um üble Nachrede der Konkurrenz handeln. Denn in Deutschland weiß man seit Jahrzehnten: Judenfeindschaft trägt primär Glatze oder wenigstens ein GOP‐Basecap. Linke, Frauen und Minderheiten sind dagegen automatisch immun gegen Judenhass. Und im Zweifel gilt: Etwas mehr Härte gegenüber Israel kann nie schaden. Gerade »wir als Deutsche« wissen ja, wie wichtig es ist, den Israelis ab und an auf die Finger zu klopfen. So gesehen ist es natürlich begrüßenswert, wenn im Kongress nun die Vielfalt Einzug hält und der »Israelknax« endlich auch sein buntes, junges Gesicht zeigen darf. Schließlich ist die Israelkritik zu wichtig, um sie ausschließlich weißen Deutschen zu überlassen."

... hier gehts weiter.

Darüber hinaus sind an gleicher Stelle in den letzten Monaten auch noch ein paar weitere Worte über bedeutende Protagonisten der Israelkritik erschienen, etwa über Ahed Tamimi, das Palästinenser-Flüchtlingswerk der UN sowie Tilo Jung.

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Geschichtsbewusstsein gefühlt, nicht gerührt

Es gibt viele Wege, ein etwaiges Unwohlsein in Bezug auf Transitzentren für Asylbewerber zum Ausdruck zu bringen. Aber nur in Deutschland gibt es auch genug von dieser ganz speziellen Expertise, die notwendig ist, um daraus ein vulgär-historisches Bohei zu zaubern. Und so meldeten sich also unlängst ein paar besonders ausgeschlafene Anscheins-Antifaschisten zu Wort, die in fiktiven Transitzentren eine Neuauflage der nationalsozialistischen Konzentrationslager zu erkennen meinten. Was genau sie damit eigentlich artikulieren wollten, bleibt etwas ungewiss. Ein Appell, doch gefälligst aus der Geschichte lernen, kann es jedenfalls nicht gewesen sein. Denn das würde eine gewisse Grundkenntnis der Geschichte voraussetzen, die jedoch mit so wagemutigen Analogien nur bedingt vereinbar ist. Anscheinend betrachtet man Geschichte in Vergleicher-Kreisen ohnehin vielmehr als Werkzeugkasten, aus dem man sich bei Bedarf mal die Wasserwaage, mal den Zollstock herausgreift, allein, um dadurch eine bessere Figur zu machen. Ist das KZ dann erstmal überall, notfalls auch zwischen Kiefersfelden und Kufstein, dann ist es gleichzeitig auch nirgendwo – und damit erst recht nicht dort, wo es einst war: im deutschen Einflussbereich innerhalb eines deutschen, singulären Kontexts. Aber auf derlei Hauptsächlichkeiten kommt es gerade nicht an. Geschichtsbewusstsein an sich ist zwar eine prima Sache, inzwischen tut es aber auch die gefühlte Variante. Wenn man schon eine solche Vergangenheit hat, muss man schließlich auch was draus machen. Wäre ja sonst schade drum.

Seither ist sowieso schon wieder viel passiert. Die Koalition steht noch, der „Masterplan“ ebenfalls, das Transitzentrum heißt nun Transferzentrum, könnte morgen aber schon wieder zum "Verweilzentrum" mutieren. Auch sonst ist insbesondere in Berlin einiges geboten. Der Inhaber eines israelischen Restaurants veröffentlichte unlängst einen Auszug der antisemitischen Liebesbriefe, die er regelmäßig erhält, woraufhin er von Facebook gesperrt wurde. Berliner Schulen eiertanzen weiterhin um antisemitisches Mobbing. Und am Wochenende wurde ein jüdischer Syrer von sieben Landsmännern verprügelt, nachdem er sich erdreistete, einen Teil seiner Identität in Gestalt eines Davidsterns um den Hals zu tragen. Vorkommnisse dieser Art werden inzwischen zwar medial beachtet, aber die Transit-KZ-Emotionalität fehlt in diesem Rahmen dann doch irgendwie. So erfrischend der Mangel an missglückten Vergleichen ist, so aufschlussreich ist auch das Geschichtsbewusstsein, das sich in diesem Zusammenhang eher weniger Bahn bricht.

"Nie wieder KZ!" haben die Deutschen also mittlerweile gelernt. Erfreulich. In Sachen "Nie wieder Judenhass!" müssen sie dagegen wohl noch etwas üben.
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Wiener Chuzpe

Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz ist zweifellos vielseitig begabt. Vor allem in Sachen Flexibilität macht ihm kaum jemand etwas vor. “Die Sicherheit Israels ist für uns als Republik Österreich nicht verhandelbar“, verkündete er am Mittwoch mit ernster Miene während einer Pressekonferenz in Wien. Zu seiner Rechten stand dabei jedoch weder ein Vertreter der israelischen Regierung noch ein Repräsentant der jüdischen Gemeinde, sondern der iranische Präsident Hassan Rouhani, der kurz zuvor mit militärischen Ehren und rotem Teppich zum offiziellen Staatsbesuch in Wien empfangen wurde. Ganz so, wie es einem nuklear ambitionierten „Israelkritiker“, dessen Regime sich der Vernichtung Israels verschrieben hat, eben gebührt – doch dazu später mehr.

Wenn schon, denn schon, muss man sich also zwischen Ballhausplatz und Hofburg gedacht haben. Je brutaler das Regime, desto pompöser der Auftritt. So ein waschechter Mullah mit Hinrichtungs-Hintergrund kommt schließlich nicht alle Tage zu Besuch. Zumal, und das darf man freilich nicht vergessen, die österreichisch-iranische Freundschaft inzwischen auch ernsthaft unter Beschuss steht. Denn seit sich die USA aus dem Nuklear-Abkommen mit dem Iran zurückgezogen und zudem Sanktionen verhängt haben, müssen die Iraner und ihre verbleibenden Freunde noch enger unter dem westlich-antiwestlichen Dach zusammenrücken. Bereits am Vortag war der iranische Präsident daher ebenso herzlich in der Schweiz empfangen worden.

Ein so lukrativer Deal jedenfalls darf keinesfalls zerstört werden, da sind sich Kurz und Rouhani einig. 160 Jahre diplomatische Beziehungen verbinden schließlich – so sehr, dass die „Österreichische Akademie der Wissenschaften“ geschwind eine Ausstellung zu diesem Thema auf die Beine stellte, die der iranische Außenminister Javad Zarif im Rahmen dieses Besuchs mit seiner Amtskollegen Karin Kneissl eröffnete. Hassan Rouhani hatte gute Gründe, als er „im Namen Gottes“ für die Gastfreundschaft Österreichs dankte.

Vom Umgang mit Judenhassern: heute bekämpfen, morgen hofieren

Sebastian Kurz wiederum nutzte die Gelegenheit, sein unnachahmliches Talent im Bereich „Trittsicheres Tanzen auf zwei Hochzeiten“ zur Schau zu stellen. Im Nachgang der Gespräche mit seinem iranischen Kollegen betonte er sowohl das „seit je her gute Verhältnis zum Iran und zur iranischen Bevölkerung“ als auch die positiven Entwicklungen im Bereich der Handelsbeziehungen, die nun wieder auf dem Niveau von vor den Sanktionen angekommen sind. Ebenso wichtig sind dem Kanzler die „sehr engen menschlichen Beziehungen“ – bestimmt die zu den inhaftierten Oppositionellen und zur Todesstrafe verurteilten „Ehebrecherinnen“ – sowie die „kulturellen Beziehungen“ zwischen dem Iran und Österreich, wofür vor allem das „Kulturforum“ in Teheran steht: wohlgemerkt das „einzige westliche Kulturinstitut im Iran, das eine ununterbrochene Präsenz seit sechzig Jahren hat“, wie Kurz betont. So lange hat es nicht einmal das Goethe-Institut in Teheran ausgehalten. Darüber hinaus sei Österreich ein Land, das „sich überall für die Menschenrechte einsetzt, und natürlich auch gegenüber dem Iran“. Löbliches Engagement, das man vor allem daran erkennt, dass eine Gruppe Regime-kritischer Demonstranten an diesem Tag in weite Ferne des Regierungszentrums verbannt wurde.



Auch ein Herzensanliegen“, also neben dem Dialog in allen Formen und Farben, ist dem Kanzler die „ganz besondere historische Verantwortung“. Genauer: „Der Kampf gegen Antisemitismus und die Unterstützung Israels sind für uns zentral“, gab Kurz zu Protokoll. „Aus unserer Sicht absolut inakzeptabel ist, wenn das Existenzrecht Israels infrage gestellt wird oder zur Vernichtung Israels aufgerufen wird. Genauso haben wir natürlich kein Verständnis für die Verharmlosung des Holocaust, ganz gleich, wo diese stattfindet. Die Sicherheit Israels ist für uns als Republik Österreich nicht verhandelbar.“ Warum er dann aber mit Hassan Rouhani überhaupt einen Experten für die praktische Unsicherheit Israels mit militärischen Ehren empfängt, verriet der österreichische Kanzler nicht. Schade eigentlich. Zu gerne hätte man erfahren, wie sich beispielsweise der iranische Holocaust-Karikaturen-Wettbewerb auf die „sehr engen kulturellen Beziehungen“ zwischen beiden Ländern ausgewirkt hat. Oder wie die Kurz’sche Israel-Politik, die mit wohlklingenden Worten wie „Staatsräson“ und Bildern an der Klagemauer garniert wurde, mit dem „seit je her guten Verhältnis“ zu einem Terrorregime korrespondiert, das sich tagein tagaus mit der Vernichtung Israels befasst.

Eine Fluchtursache zu Gast bei Freunden

Aber vielleicht muss man auch an dieser Stelle einfach mehr an die heilsame Kraft des Dialogs, immerhin neben Wiener Schnitzel und Walzer eine klassisch österreichische Spezialität, glauben. „Österreich ist ein Brückenbauer, ein neutrales Land, oft auch Ort des Dialogs“, erklärte Kurz – also eine Begegnungsstätte für wild entschlossene Despoten und westliche Amtsinhaber, die selbst im Angesicht zivilisatorischer Abgründe noch ihre sowohl-als-auch-ige Äquidistanz zu wahren wissen. Zwar leiden viele seiner europäischen Kollegen ebenfalls nicht unbedingt an Berührungsängsten gegenüber dem iranischen Regime. Die Fähigkeit jedoch, heute dem israelischen und morgen dem iranischen Staatschef beschwingt gegenüber zu treten, bleibt dagegen eine exklusive Domäne des österreichischen Kanzlers.

Und als solcher hat Sebastian Kurz derzeit ohnehin noch ganz andere Dinge zu tun. Die österreichische EU-Rats-Präsidentschaft hat begonnen, Grenzverläufe und Schließungen stehen auf der Tagesordnung. Die Asyl-Krise spaltet Europa, 2015 wie 2018. Insofern bietet es sich förmlich an, mit dem iranischen Präsidenten einen Mann einzuladen, der in Syrien dazu maßgeblich einen Beitrag geleistet hat. Auch und vor allem Milizen unter iranischem Kommando sind es, die sich in Syrien um die blutige Bilanz eines Kriegs kümmern, der seither mehrere Millionen Menschen zur Flucht bewegte. Zwischen dem Libanon, Jemen, Irak und Afghanistan sind die Handlanger des Regimes dahingehend ebenfalls aktiv. „Ich hoffe sehr, dass alle Staaten der Region, aber natürlich auch die großen Weltmächte einen Beitrag leisten, dass es zu einer friedlichen, zu einer politischen Lösung kommt und das Leid der Menschen beendet wird“, bemerkte Kurz dazu. Wobei seine Hoffnung der syrischen Realität ohnehin schon sehr nahe kommt: Auch ein Friedhofsfrieden mit unzähligen Toten ist ein Weg, dem dortigen Elend ein Ende zu setzen.

Dialog ohne Limit

Und so nahm der Staatsempfang seinen Lauf und endete später bei der Wirtschaftskammer, wo Rouhani im Beisein österreichischer Unternehmer einen Vortrag hielt und man sich anschließend gegenseitig zu weiteren Geschäften, notfalls unter Umgehen der amerikanischen Sanktionen, motivierte. Zuvor jedoch nutzte der iranische Präsident noch die Gelegenheit, im Rahmen der gemeinsamen Pressekonferenz und unter ausgeprägtem Schweigen seines Gastgebers einige grundsätzliche Überlegungen zur „Israel-Frage“ zu präsentieren. Die Iraner hätten „gute Beziehungen zu den Juden in aller Welt“. Nur mit den „Zionisten“ gebe es eben immer Ärger. Die würden nicht nur die Menschen in Gaza „unterdrücken“, sondern auch noch den IS in Syrien sponsern und überhaupt eine äußerst schändliche Rolle in der Region spielen. Dass die Israelis den Iranern inzwischen auch die Regenwolken klauen, wie ein iranischer General unlängst feststellte, vergaß er erstaunlicherweise zu erwähnen. Aber vielleicht gibt sich das ja im Rahmen des Dialogs, für den die Österreicher im Allgemeinen, Sebastian Kurz im Besonderen stets bereit sind. Notfalls auch in demutsvoll gebückter Haltung.

Zuerst bei den Salonkolumnisten erschienen.

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Geschichtsklitterung nach gauländischer Hausmanns-Art

Alexander Gauland pflegt schon länger ein eigentümliches Verhältnis zur NS-Vergangenheit. Seine Rede vom Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ relativiert sowohl dessen Bedeutung in der deutschen Geschichte als auch die NS-Verbrechen an sich. Was ihn an den Nazis stört, sind weniger ihre Taten, sondern vielmehr der dadurch verursachte Imageschaden für Deutschland.
 

Es gibt viele Mittel und Wege, die deutsche Vergangenheit zu beschönigen. Die einen behelfen sich mit Zahlenspielen, die anderen setzen auf den ausgestreckten Zeigefinger. Fortgeschrittene kombinieren gerne mal beide Strategien. Günter Grass beispielsweise beklagte zu Lebzeiten das Schicksal von sechs Millionen Wehrmacht-Soldaten, die in seiner Vorstellung den Sowjets zum Opfer fielen. Damit versechsfachte er nicht nur die eigentliche Zahl, sondern verrechnete sie auch geschickt mit den sechs Millionen ermordeten Juden. In Dresden wiederum schraubt man hie und da die Opferzahlen des Luftangriffs im Februar 1945 in die Höhe, um sie anschließend lauthals auf dem Sündenkonto der Alliierten zu verbuchen. Davon abgesehen bietet sich auch noch die professionelle Leugnung der NS-Verbrechen an, doch damit befindet man sich inzwischen nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Der Vergangenheitsbewältiger von heute setzt da lieber auf gezielte „Israelkritik“, wonach auch die Israelis in Gaza ein „Ghetto“ oder gar ein „Freiluft-KZ“ betreiben würden. Schon steht es 1:1 zwischen Opa und Zionismus.

Eine nicht minder originelle Herangehensweise hat indes AfD-Chef Alexander Gauland entwickelt. Auch ihn treibt die deutsche Vergangenheit um. Jedoch leugnet er sie weder, noch wiegt er sie mit vermeintlichen Schandtaten der Alliierten auf. Gauland ist vielmehr ein Mann der Tat. Als solcher krempelt er die Ärmel hoch und arrangiert Geschichte einfach neu. Mit chirurgischer Präzision zerlegt er sie in ihre Einzelteile und ordnet sie so an, bis sie seinen Vorstellungen entspricht. Eine Kostprobe seiner Bemühungen präsentierte er vergangenen Herbst beim Kyffhäuser-Treffen, wo er das allgemeine Recht einforderte, sich nicht nur „unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen“. „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr“, stellte er fest, und forderte bei der Gelegenheit auch gleich, auf die „Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen stolz zu sein“. Wenn schon, denn schon.

Was nicht passt, wird passend gemacht

Insofern ist es nur folgerichtig und dazu keine bahnbrechende Neuigkeit, wenn der AfD-Experte für selektive Geschichtsdeutung nun die nationalsozialistische Herrschaft samt Holocaust, Vernichtungskrieg im Osten und nie dagewesener Grausamkeit quer durch Europa als „Vogelschiss“ interpretiert. So geschehen beim Bundeskongress der „Jungen Alternative“ in Thüringen, wo Gauland folgendes verlautbarte:

„Wir haben eine ruhmreiche Geschichte. Daran hat schon Björn Höcke erinnert. Und die, liebe Freunde, dauerte länger als die verdammten 12 Jahre. Und nur, wenn wir uns zu dieser Geschichte bekennen, haben wir die Kraft, die Zukunft zu gestalten. Ja, wir bekennen uns zu unserer Verantwortung für diese zwölf Jahre. Aber, liebe Freunde, Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren deutscher Geschichte.“

Gerne wüsste man, welche kollektiven Großartigkeiten deutscher Geschichte Alexander Gauland eigentlich meint. Den dreißigjährigen Krieg oder die Hexenverfolgungen vielleicht? Zu Demokratie und Rechtsstaat wiederum mussten die West-Alliierten die Deutschen schon zwingen, ein originär teutonisches Verdienst ist an dieser Stelle nur schwer zu erkennen. Aber derlei Fragen vermiesen auf einem AfD-Event bloß die Stimmung. Sie sind auch nicht wichtig, wenn es darum geht, die deutsche Identität zu trainieren. Geschichtspolitik nach gauländischer Hausmanns-Art hat ohnehin eher kreativen Charakter. Sein Geheimnis besteht darin, die Geschichte gehörig umzugraben und neu zu arrangieren. Verbrechen und Heldentaten ordnet er im historischen Blumenbeet dann einfach mal ganz anders an und hebt Aspekte hervor, die man bislang eher im Unkraut vermutete. Was sich gut macht – Stauferkaiser, Bismarck, Goethe – wird bevorzugt, was in der Rückschau nicht so schmeichelhaft wirkt, etwa die Nazis, lässt er weg. „Das betrifft unsere Identität heute nicht mehr“, sagt er dann und reißt die Wurzeln raus. Höchstens am Rande dürfen die Nazis mitspielen, und zwar lediglich in einer sozialverträglichen Variante – etwa in Form von Wehrmacht-Soldaten, auf die deren Enkel ihrer „Tapferkeit“ wegen durchaus stolz sein dürfen.

Relativierung durch die Hintertür

Fertig ist die neue Geschichtsschreibung, die nicht nach Inhalten, sondern nach Verhältnissen fragt. Zwölf Jahre von tausend entsprechen 1,2 Prozent, proportional ein „Vogelschiss“ also, unabhängig davon, was in dieser Zeit geschah. Und deutsche Wehrmachtsoldaten zeigten sich immerhin „tapfer und pflichtbewusst“, weshalb man stolz auf sie sein dürfe, unabhängig davon, wofür sie so unermüdlich kämpften und töteten. Der Zivilisationsbruch verwandelt sich so in eine historische Randnotiz, die Wehrmacht wiederum in eine Randnotiz-Unterabteilung, in der nicht alles schlecht war. Wozu dann noch Gedenkminuten abhalten, Mahnmale einweihen, erinnern und Holocaust-Forschung betreiben, all das für einen „Vogelschiss“? Lächerlich! Befreit von diesem „Schuldkult“, wie es seine Kollegin Alice Weidel auszudrücken pflegt, lässt sich doch viel selbstbewusstere Politik ohne Rücksicht auf humanistischen Firlefanz betreiben. Denn auch das ist es, was Alexander Gauland und den seinen am Herzen liegt. Den Nationalsozialismus relativiert er im Zuge seiner rhetorischen Turnübungen freilich nicht direkt, sondern indirekt. Indem er auf rein rechnerischem Wege zunächst die Bedeutung „dieser 12 Jahre“ in der deutschen Geschichte marginalisiert und sie zu einer bloßen Zahl nahe Null herabstuft, verharmlost er jedoch hintenherum zwangsläufig die ihnen innewohnenden Verbrechen.

Davon haben dann praktischerweise alle was: Alexander Gauland, für den es mit „dieser“ Vergangenheit offenbar keine Zukunft geben kann, weshalb er sich eine andere zurechtlegt; die Enkel und Urenkel, die die Ehre ihrer (Ur-)Großväter retten wollen; und natürlich ebenso diejenigen, die lieber gestern als heute einen „Schlussstrich“ ziehen wollen und sich „darüber ärgern, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“. Letzteres bringt laut einer Bertelsmann-Stiftung 66 Prozent der Deutschen um den Schlaf, unter den Jüngern sind es 79 Prozent. Während vor allem Medienschaffende noch darüber rätseln, ob man über das „Stöckchen“ der AfD springen und damit der gauländischen Geschichtsdeutung überhaupt erst Relevanz verschaffen sollte, hat eine Mehrheit der Deutschen diese Frage offenkundig schon längst für sich beantwortet. Und wo noch darüber gemutmaßt wird, ob Gauland aus Kalkül oder Überzeugung agiert, dürfte der AfD-Chef selbst eine ganz einfache Antwort darauf finden: Er spricht aus, was er ausspricht, weil er es kann. Weil es den Umfragewerten nicht geschadet hat, nicht schaden wird und er eine Mehrheit hinter sich weiß.

Der germanischen Performance nicht förderlich

Indes werden in den Reihen der AfD schon die bewährten Eiertanz-Einlagen geboten. Jörg Meuthen beispielsweise moniert die „unglückliche Wortwahl“, nicht jedoch die Botschaft. Immerhin, so der AfD-Bundesvorsitzende, habe Gauland „in keiner Weise die entsetzlichen Gräueltaten der Nazizeit verharmlost oder relativiert“. Das stimmt natürlich. Im Gegensatz zu manchem Parteigenossen hat er zudem weder die Politik Reinhard Heydrichs, Chef des Reichssicherheitshauptsamts, als „klug“ gelobt, noch die beiden Weltkriege zu „deutschen Freiheitskämpfen“ befördert oder die „Protokolle der Weisen von Zion“ als „genial“ bezeichnet. Für AfD-Verhältnisse also schon mal eine Leistung. Gauland selbst lässt derweil ausrichten, mit der Bezeichnung des Nationalsozialismus als „Fliegenschiss“ [sic!] habe er doch eine der „verachtungsvollsten Charakterisierungen [gewählt], die die deutsche Sprache kennt“. Wahrlich: Dass der AfD-Chef der NS-Zeit nichts Positives abgewinnen kann, dafür muss man ihm unbedingt Respekt zollen.

Tatsächlich hat selbiges aber auch niemand behauptet. Selbstverständlich kann Gauland weder dem „Führer“ noch dessen Wirken etwas abgewinnen. Nur sind es eben nicht unbedingt der industrielle Judenmord, der Vernichtungskrieg und die Terrorherrschaft, die Gauland am Nationalsozialismus stören. Was er Hitler dagegen wirklich übel nimmt, ist der immer währende Fleck, den die NS-Herrschaft in der doch sonst so blitzsauberen Bilanz der Deutschen hinterlassen hat. Nicht Hitlers Verbrechen an sich sind das Problem, sondern die Tatsache, dass der „Führer“ Deutschland in der Rückschau nicht unbedingt zum Vorteil gereicht. Ein zweiter Weltkrieg, noch dazu schon wieder ein verlorener, dann auch noch ein Genozid und Millionen Tote darüber hinaus – diese „verdammten zwölf Jahre“ verhageln einfach die gesamte Performance. Anstatt sich in der tausendjährigen Geschichte zu sonnen, müssen die Deutschen nun also auch siebzig Jahre später Gedenkminuten einlegen und Mahnmale einweihen. Und anstatt gemächlich den eigenen Lebensabend zu genießen, muss Alexander Gauland durch die Lande tingeln, die Wehrmacht rehabilitieren und den Deutschen das Rückgrat wieder aufrichten, das Hitler ihnen seiner Ansicht nach „gebrochen“ hat. So hatte das deutsche Volk nun wirklich nicht gewettet.

Schöner Mist also. Beziehungsweise Vogelschiss. Danke, Adolf!


Zuerst bei den Salonkolumnisten erschienen.
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Süddeutsche Wiederholungstaten

Warum die Süddeutsche Zeitung immer wieder mit als antisemitisch kritisierten Karikaturen von sich reden macht – ein Nachtrag aus aktuellem Anlass in der aktuellen Ausgabe (Print + online) der "Jüdischen Allgemeinen".

"Doch in dem Werk von Dieter Hanitzsch geht es weniger um Schattierungen als vielmehr um das große Ganze: die düsteren Machenschaften des Benjamin Netanjahu. Eines Mannes also, der sich hier nur als Regierungschef tarnt, in Wirklichkeit aber mit seinen schwulstigen Lippen und seiner überdimensionalen Nase »den Juden« an sich repräsentiert. Erst bearbeitet er den US-Präsidenten dahingehend, Jerusalem als Hauptstadt anzuerkennen, nebenbei bombardiert er die leidenden Palästinenser. Und als wäre das nicht schon genug, reißt er sich jetzt auch noch den ESC unter den Nagel. Der raffgierige Premier lässt nicht nur Netta wie eine Marionette zum ESC tanzen, er flüstert nicht nur dem US-Präsidenten sinistere Pläne ein, nein, er nimmt nun zusätzlich die Europäer in Geiselhaft, die nächstes Jahr in Jerusalem eine Hauptstadt zu »legitimieren« haben, die den Juden ja eigentlich gar nicht zusteht – zumindest aus Sicht vieler SZ-Leser.

Kurzum: Der skrupellose Bibi hat uns alle in der Hand, von Washington über Jerusalem bis nach Europa, und dabei macht er auch vor Lesern der SZ nicht halt. Insofern muss man Dieter Hanitzsch durchaus Anerkennung zollen: Nicht vielen Karikaturisten gelingt es, große Teile des Sündenregisters der Juden seit der Kreuzigung Jesu so kompakt in nur einer Karikatur unterzubringen."


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Iran-Deal? It’s identity politics, stupid!

Weder hat der Iran-Deal den Nahen Osten sicherer gemacht, noch den Iran von seinen nuklearen Ambitionen abgebracht. Mit den europäischen Befindlichkeiten korrespondiert er dafür umso besser. Der Abschied der USA aus dem Atomabkommen trifft die selbsternannten „Friedensdiplomaten“ daher auch nicht politisch, sondern im Kern ihrer Identität.

 
 
Der Nahe Osten ist das Lieblingsprojekt der Europäer. Kaum ein Erdteil bewegt sie mehr. Kein Ort und kein Elend, weder die humanitäre Krise Venezuelas noch der real existierende Gulag Nordkoreas, verleiten sie zu so ausgeprägten Mahnungen, Warnungen und Sorgenfalten, wie es die Region zwischen Israel und Afghanistan vermag. Dabei sympathisiert der Europäer als solcher, der Deutsche im Besonderen, ansonsten eher weniger mit unaufgeräumten Verhältnissen. Er hat es gern übersichtlich und ordentlich, was besondere Beziehungen in Richtung Morgenland zunächst etwas erschwert. Gleichzeitig gilt es, der selbst auferlegten Verpflichtung zur gründlichen Schiedsrichterei zuverlässig nachzukommen. Nahost ist einfach zu verlockend, um lediglich zu schweigen.

Um diesem Dilemma zu entkommen, haben europäische Beobachter, Politiker und Diplomaten im Laufe der Zeit ausgeklügelte Strategien entwickelt: Sie schauen gerne weg, wenn es zu chaotisch wird, etwa in Syrien oder in Jemen. Und sie werden gerne laut, wenn sich die Gelegenheit ergibt, auf der Weste der Amerikaner und der Israelis einen Fleck zu identifizieren. Jihadisten, Despoten und Terror-Banden trifft dagegen erstmal keine Schuld, handelt es sich bei ihnen doch bloß um Opfer zionistisch-imperialistischer Bestrebungen. So lässt sich entspannt Nahost-Politik betreiben, ohne dass es wehtut.

Die Ming-Vase unter den internationalen Verträgen

Dem Hang zur Ordnung und der Sehnsucht nach Geschichtsbuch-trächtigen Auftritten mit moralisch anmutendem Charme entsprang 2015 auch das Iran-Abkommen. Während internationale Abkommen gewöhnlich einem Zweck dienen, war der Iran-Deal (JCPOA) stets Zweck an sich. Das Abkommen stellt gewissermaßen die Ming-Vase unter den internationalen Verträgen dar. Ob es hält, was es verspricht, gilt als eher zweitrangig – Hauptsache, man hat es. Und weil man einst viel Mühe, Arbeit und Schweiß darin investierte, hat es gefälligst auch am Leben zu bleiben.

Entsprechend beleidigt reagiert man auf dem Kontinent, wenn Störenfriede wie der israelische Premierminister die kostbare Ming-Vase vehement als billige Mogelpackung bezeichnen. Und dementsprechend am Boden zerstört zeigen sich die Europäer nun, nachdem der amerikanische Präsident das kostbare Gut einfach gegen die Wand schmetterte und anschließend öffentlichkeitswirksam auf den Scherben herumtrampelte. Dass die USA sich unter Donald Trump nicht nur aus dem Abkommen zurückziehen, sondern auch noch verstärkte Sanktionen gegen den Iran zu verhängen gedenken, nehmen ihnen die Europäer mehr als nur übel.

Kämpferisch treten sie nun an, ihr Lieblingsprojekt doch noch am Leben zu erhalten. Umgehend warf die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini die rhetorischen Beatmungsgeräte an, immerhin sei JCPOA doch „entscheidend für die Sicherheit Europas, der Region und der ganzen Welt“. Schade nur, dass sich derlei Erkenntnisse noch nicht bis in die nahöstlichen Gefilde herumgesprochen haben, wo der Iran mitsamt seiner Handlanger grenzübergreifender und blutiger als zuvor unterwegs ist. Seltsamerweise ist es um die Sicherheit unzähliger Iraner, Syrer, Iraker und Jemeniten nach wie vor nicht so gut bestellt, wie man in Brüssel meint.

Im antiimperialistischen Bällebad

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vergesellschaftet seine persönliche Kränkung gekonnt. Seinerzeit als Außenminister selbst an den Verhandlungen beteiligt, beklagt er nun einen „schweren Rückschlag für die Friedensdiplomatie“ sowie eine „Tragödie für den Iran“. Und Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, wirft Donald Trump vor, seine Wahlkampfversprechen sogar „zum Nachteil des Weltfriedens“ umzusetzen. Dabei ist es erst ein paar Wochen her, da der US-Präsident aus europäischer Perspektive zuletzt den Weltfrieden gefährdete – nämlich, als er gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien leerstehende Chemiewaffen-Lager des Assad-Regimes bombardierte.

Wenn es um den viel zitierten Weltfrieden geht, macht Donald Trump offenkundig niemandem etwas vor. Kein Wunder, dass ihm die Gefährdung des „Friedens in Nahost“ da umso leichter von der Hand geht. „Donald Trump bringt die USA, Israel und die gesamte Region zurück an den Rand eines großen Krieges“, so die Diagnose auf „Spiegel Online“, wo man den Nahen Osten offenkundig für eine friedliche Oase hält, die erst dank des Mannes im Weißen Haus außer Balance geraten ist. Schließlich wird Amerika ja nun von „moralisch Verwahrlosten“ regiert, während Hassan Rohani durch „geistig moralische Überlegenheit“ glänzt, wie ein Mitarbeiter von „Panorama“ (ARD) feststellt. Eine Einschätzung, die eventuell auch Georg Restle, besorgter Redaktionsleiter beim ARD-Magazin „Monitor“, teilen würde. „Und das am 8. Mai: Oberster Kriegstreiber sitzt im Weißen Haus“, twitterte er anlässlich der amerikanischen Atomentscheidung. Es sind wertvolle Einordnungen wie diese, für die man gerne den GEZ-Beitrag entrichtet: Der Ami ist der neue Adolf.

Zu gerne würde man die Europäer für einen Moment aus dem antiimperialistischen Bällebad abholen und sich mit ihnen so über den Nahen Osten unterhalten, wie es unter Erwachsenen üblich sein sollte. Spätestens dann würden sie vielleicht sogar feststellen, dass es durchaus einige Wege gibt, den Atom-Deal zu analysieren, zu kritisieren und zu bewerten. Die einen verdammen ihn von Grund auf, die anderen halten ihn für gut gemeint, jedoch schlecht gemacht, und wieder andere plädierten bislang für eine der Bedrohung angemessene Korrektur anstelle einer Annullierung. Tatsächlich ist es sogar möglich, einen (und damit nicht zwingend diesen) Deal zu befürworten, ohne dabei die Bedrohung durch das iranische Regime zu negieren. Und es ist ebenso machbar, Trumps Entscheidung und die Implikationen für die transatlantische Partnerschaft zu diskutieren, ohne dabei die Gesprächsatmosphäre mit antiamerikanistischen Reflexen zu verunreinigen.

Knick in der Optik

All das ist im Rahmen des Möglichen, potentiell sogar unter Beteiligung der Europäer – vorausgesetzt, sie bringen auch ein wenig Realitätsbezug mit. Entscheidend ist nämlich in erster Linie nicht, wie man das Agreement bewertet, sondern wie man die Teheraner Realität überhaupt wahrnimmt. Hält man jedoch Hassan Rohani für einen „moderaten Reformer“ und das Mullah-Regime an sich für einen etwas übermütigen, aber eben doch durch viel Kultursensibilität und Geld zähmbaren Rowdy, erübrigt sich die Diskussion. Man kann nur dann über den Umgang mit der iranischen Führung sprechen, solange alle Beteiligten sich einig sind, mit wem sie es in Teheran zu tun haben.

Viele Europäer beeindrucken ihre Umwelt dahingehend allerdings mit einem vergleichsweise sonnigen Gemüt. Ist von einem Abkommen die Rede, denken sie nur an ihren Deal, an dem sie kein Komma geändert sehen wollen. Wo Israel eine existentielle Bedrohung ausmacht, erkennen die Europäer vielmehr „hysterische“ Israelis, die sich lediglich bedroht „fühlen“. Und wenn eine aufgestachelte Menge durch Teheran marschiert und „Death to USA, death to Israel!“ skandiert, nimmt man das zwischen Brüssel und Berlin erst einmal nicht zur Kenntnis, verbucht es auf Nachfrage höchstens als nahöstliche Verbal-Folklore. Denn die Europäer im Allgemeinen, die Deutschen im Besonderen, haben sich schon länger angewöhnt, ausschließlich das Gute im iranischen Regime zu sehen: geheimnisvolle Ayatollahs, die brav die Hände schütteln sowie Staatsunternehmen, die eifrig Baukräne und Turbinen ordern. Eine Disziplin, in der weder die Israelis noch die amerikanischen Mullah-Gegner mithalten können.

Es ist dieser Knick in der Optik, der jedes europäische Gespräch über das Nuklear-Abkommen in ein Feuerwerk der Logik verwandelt. Seit die Vereinbarung 2015 in Kraft trat, hat der Iran alles unternommen, um sein Gegenüber am Verhandlungstisch ausgesucht idiotisch aussehen zu lassen. Sein Streben nach Vorherrschaft von Teheran über Bagdad bis nach Beirut und Damaskus hat das Regime seither beständig intensiviert. Es lässt seine Handlanger nicht nur im syrischen Bürgerkrieg mitmorden, sondern auch den heißen Krieg mit Israel proben. Und wenn die Mullahs eine neue atomar bestückbare Mittelstreckenrate ins Sortiment nehmen, zögern sie keine Sekunde, dies ihrer Umwelt auch unübersehbar mitzuteilen. Wo die Mullahs atomar zumindest oberflächlich einen Gang runterschalten, geben sie seit Bestehen des Deals auf konventionellem Wege umso mehr Gas. Europäisches Geld macht es möglich.

Identitätspolitik, getarnt als Diplomatie

Gleichwohl spielen Hauptsächlichkeiten wie diese insbesondere in der deutschen Diskussion eine erstaunlich marginale Rolle. „Der Iran hält sich an die Regeln“, betonen Federica Mogherini und ihre Freunde stets – was wenig über den Iran und viel über die Natur des Abkommens aussagt, an dem die Europäer so hängen. Dass der Iran bei Vertragsschluss log und dies weiterhin tut, wertet man vielmehr als grünes Licht für ein kraftvolles „Weiter so!“. Mehr als die Natur der Atom-Inspektionen interessiert sie die Aufhebung der Sanktionen. Denn europäischer Logik folgend wird sich ein auf Vorherrschaft und Gewalt fixiertes Regime schon mäßigen, solange man nur genügend Handel mit ihm treibt.

Insbesondere den Deutschen wird dabei oft vorgeworfen, es ginge in puncto Iran ausschließlich ums Geschäft. Mehr als halbgare Diplomatie sei von ihnen, deren Streitkräfte es wohl nur gerade so von Berlin bis nach Potsdam schaffen würden, ohnehin nicht zu erwarten. Beides mag stimmen, wird den Deutschen und ihren europäischen Mitstreitern aber keinesfalls in Gänze gerecht. Denn in der Hauptsache dient das Abkommen den Befindlichkeiten derer, die es einst abschlossen und anschließend stolz vor die Kameras traten. Mag das Agreement auch noch so untauglich sein, den Nahen Osten zu befrieden, der iranischen Bevölkerung zu mehr Lebensqualität zu verhelfen und die Mullahs von ihren nuklearen Ambitionen abzubringen – für die Pflege des europäischen Selbstbilds eignet es sich dafür aber prima.

Wenn die Europäer über den Iran, den Deal und das nun naheliegende Scheitern sprechen, blicken sie weder nach Teheran, noch auf die blutige Realität, sondern vor allem auf sich selbst. Auf ihre „Friedensdiplomatie“, ihre „historische Errungenschaft“ und ihren Gefühlshaushalt, dem „ein bisschen Frieden“ seit je her besser bekommt als Realismus und Tatkraft. Und wenn es schief geht, sind nicht die Schurken schuld, sondern die USA und Israel, die nichts Geringeres als den Weltfrieden bedrohen. Jahrzehnte lang eingeübte Israelkritik und ausgeprägte Amerika-Skepsis zahlen sich aus. Am wohlsten fühlt man sich nicht innerhalb der westlichen Allianz, sondern als neutraler Vermittler, der kultursensibel Verständnis auch für die brutalsten Despoten aufbringt.

Nur logisch also, dass das einzig verbleibende Argument für den Erhalt des Atom-Deals vor allem darin besteht, dass man ihn höchstpersönlich und eigenhändig geschlossen hat. Wenn Sicherheitspolitik jedoch mit Identitätsstiftung verwechselt wird, sollte man das Heft des Handelns möglicherweise doch lieber anderen überlassen. Dem Frieden zuliebe.

Zuerst bei den Salonkolumnisten erschienen.
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Spiel, Spaß und Spannung mit Davidstern und Hakenkreuz

Das Theater Konstanz führt am Geburtstag Adolf Hitlers „Mein Kampf“ von George Tabori auf. Gleichzeitig erweitert es die Inszenierung um eine Kostümparty, die der deutschen Erinnerungskultur wie auf den Leib geschneidert ist: Wer gratis rein will, muss ein Hakenkreuz tragen, wer zahlt, kann einen Davidstern anlegen.
 

Es gibt viele Wege, eine dunkle Vergangenheit zu bewältigen. Man kann sie sowohl nach Art von Erdogan leugnen als auch in putinesker Weise verklären. Oder aber man geht mit der Zeit und probiert stetig etwas Neues aus. So halten es die Deutschen, deren Verhältnis zur NS-Vergangenheit vergleichsweise abwechslungsreicher Natur ist. Erst haben sie von nichts gewusst, dann waren sie an nichts schuld. Zwischendurch wurde ein wenig geleugnet, verharmlost und aufgerechnet, bis es nur noch Opfer und keine Täter mehr gab. Heute wiederum bauen sie unter anderem Mahnmale, zu denen „man gerne geht“ und sind stolz darauf, „aus der Geschichte gelernt“ zu haben. Was genau, das behalten sie jedoch sicherheitshalber für sich. Während der Shoa-Überlebende Primo Levi nüchtern feststellte, dass „es geschehen ist“ und „folglich wieder geschehen kann“, sind sie Deutschen dahingehend weitaus pragmatischer unterwegs. Inzwischen handeln sie bevorzugt nach dem Motto: Es ist geschehen, also muss man auch etwas daraus machen.

Wie genau das dann in der Praxis funktioniert, lässt sich derzeit im beschaulichen Konstanz am Bodensee begutachten. Das dort ansässige Theater nämlich hat Großes vor: Am Geburtstag des Führers, dem kommenden 20. April, wirdMein Kampf von George Tabori unter der Regie des Kabarettisten Serdar Somuncu uraufgeführt. Der Termin ist freilich kein Zufall, aber noch lange nicht zu viel des Guten. Wenn man schon über eine so ereignisreiche Vergangenheit verfügt, sollte man der Außenwelt auch zeigen, was man hat. Darum dürfen ebenso die Zuschauer mitmachen, für die das Theater ein Schmankerl der besonderen Art parat hält: „Die Aufführung von „Mein Kampf“ beginnt schon mit dem Kartenkauf“, verheißt es in der Ankündigung. Und weiter:

„Sie können sich entscheiden: Mit dem regulären Erwerb einer Eintrittskarte in der Kategorie ihrer Wahl erklären Sie sich bereit, im Theatersaal einen Davidstern zu tragen. Sie haben auch die Möglichkeit kostenlos ins Theater zu gehen: Für eine Freikarte erklären Sie sich bereit, im Theatersaal ein Hakenkreuz zu tragen. Die Symbole erhalten Sie vor der Vorstellung im Theaterfoyer.“

Angewandte Geschichtsvergessenheit trifft auf dicke Krokodiltränen

Wie genau der Davidstern aussehen wird – zum Hakenkreuz passend in Gelb oder eher neutral? – und ob man den Besitzern von Gratiskarten beim Anlegen der Hakenkreuz-Binde einen schönen Abend wünschen oder nicht doch eher „Heil Hitler!“ zurufen wird, ist dagegen noch nicht bekannt. Klar ist nur eines: Das interaktive Kostümfest zu Konstanz soll natürlich kein geschmackloser Marketing-Gag sein. Denn das prangern nicht nur die Freunde und Förderer des Theaters, sondern auch die örtliche Deutsch-Israelische Gesellschaft und der Verein für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit an. „Es gibt eine dritte Option: Man kann auch keine Theaterkarte kaufen“, empfehlen die beiden Letztgenannten.

Kritik, die man im Theater „ernst nimmt“, ohne sie zu teilen. Dort herrscht vielmehr Erstaunen über die Vorverurteilung. Schließlich gehe es doch vielmehr um eine „längst überfällige Debatte“. Mehr noch: Tatsächlich verfolge man eine wichtige, geradezu pädagogische Mission: „Wir möchten ihnen [den Kritikern, A.d.R.] gerne nahelegen, diese Aktion als eine Auseinandersetzung und dringenden Hinweis darauf zu verstehen, wie korrumpierbar und verführbar auch heute Menschen für den Faschismus sind“, betont Dramaturg Daniel Grünauer im Angesicht der Kritik. Ein durchaus bedenkenswerter Einwand, der vor allem zeigt, wie verführbar die Menschen auch heute für angewandte Geschichtsvergessenheit sind. Benötigte man für den Faschismus früher noch mindestens einen Führer, beginnt er heutzutage am Bodensee offensichtlich schon dann, wenn Hakenkreuze gegen Gratiskarten getauscht werden.

Inzwischen hat das Theater jedoch seine „Eintrittsstruktur erweitert“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Zahlende Besucher dürfen wählen, ob sie sich „als Zeichen der Solidarität mit den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ den Davidstern anheften lassen möchten oder nicht. Eine schöner Gedanke, der sogar noch schöner sein könnte, wenn er den Deutschen nur rund achtzig Jahre früher gekommen wäre. Das Hakenkreuz für Sparfüchse wiederum bleibt obligatorisch. Wer nicht ausgerechnet am Geburtstag des Führers den Nationalsozialismus nachspielen möchte, kann die Karten für diesen Tag auch umtauschen. Das geht sogar gebührenfrei und ohne Verkleidung.

Juden gibt’s nur in der Opferrolle

Damit lässt das Theater es vorerst bewenden. Schade eigentlich. Denn sowohl für Besucher als auch für Beobachter in der Ferne bleiben hinsichtlich der Rollenverteilung einige Fragen offen. Wenn sich die zahlende Kundschaft mit den verfolgten und ermordeten Juden solidarisiert, mit wem sollen sich dann die Gratis-Hakenkreuz-Träger solidarisch erklären? Mit den Nazis, die von Konstanz aus betrachtet in erster Linie nur „verführt und korrumpiert“ wurden (wie gemein!), aber wohl nie überzeugt waren? Und wenn das Hakenkreuz für Korrumpierbarkeit steht, wofür steht dann der Davidstern? Für Courage und Integrität? Sicher, Jude sein gefährdet auch heute noch (oder wieder) hie und da die Gesundheit. Wohl dem, der seinen Davidstern hinterher geschwind an der Garderobe abgeben kann. Aber diesen durchaus beklagenswerten Zustand muss man als Theatermacher ja nicht gleich zur Norm erheben.

Es sei denn, man macht es sich lieber in der Vergangenheit gemütlich, wo das Gegenstück zum Hakenkreuz der gelbe Judenstern ist und Juden folglich nur in der Opferrolle vorkommen, auf deren Rücken sich der eigene Moralkompass gleich viel müheloser vergolden lässt. Was wiederum die Frage aufwirft: Was sollen eigentlich Juden tun, die gerne „Mein Kampf“ in Konstanz sehen würden, aber keine Lust auf eine Mottoparty haben, deren Teilnehmer sich wahlweise ins Gewand ihrer verfolgten Vorfahren oder in das von deren Mördern werfen? Fragen über Fragen, von denen sich die tapferen Theatermacher aber freilich nicht so schnell ins Bockshorn jagen lassen. Man wird ja wohl noch in Ruhe mahnen, Diskussionen anstoßen und Zeichen setzen dürfen.

Theater Konstanz: Wo Symbole des Völkermords wie Bonbons verteilt werden
  Daniel Ullrich, Threedots | CC-BY-SA 3.0

So schön können Erinnerungslücken sein!

Ohnehin beweist das Theater Konstanz in dieser Angelegenheit lediglich, wie nah es am Puls der Zeit operiert. Es ist erst einige Monate her, da das „Zentrum für politische Schönheit“ dem AfD-Politiker Björn Höcke in Reaktion auf dessen „Mahnmal der Schande“-Rede ein Mini-Holocaust-Mahnmal in den Vorgarten stellte und von ihm einen Kniefall verlangte. Kurz zuvor hielt die „Deutsche Bahn“ es wiederum für eine brillante Idee, einen ICE nach Anne Frank, die per Reichsbahn in den Tod geschickt wurde, zu benennen. Ebenfalls jüngeren Datums ist eine Studie der Uni Bielefeld und der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ über familiäre Erinnerung an die NS-Vergangenheit. Mehr als 50 Prozent der Befragten sind demnach der Ansicht, dass ihre Vorfahren zu den Opfern des Zweiten Weltkriegs zählen. Zwei Drittel gaben an, unter ihren Vorfahren befänden sich keinerlei Täter des Kriegs. Nur 18 Prozent bejahen die Frage nach der familiären Täterschaft. 2018 sind die Deutschen also endlich dort angekommen, wo sie immer hin wollten: auf dem Niveau eines Volkes voller unschuldiger Opfer.

Bei so viel Unbekümmertheit ist nur konsequent, wenn sich die Deutschen der NS-Vergangenheit im Allgemeinen, der Shoa im Besonderen so bedienen, als handele es sich um den Requisiten-Fundus der örtlichen Theatergruppe. Man greift sich das heraus, was gerade gefällt, ohne näher etwas damit zu tun zu haben. In Thüringen stellen Nachfahren der Täter einem anderen Täter-Nachfahren das Berliner Denkmal an sechs Millionen ermordete Juden vor die Tür, weil es sich gerade gut anfühlt. In Konstanz wiederum verteilen die Enkel der Nazis untereinander Davidsterne und Hakenkreuze, als ginge es um Bonbons oder Flyer. Losgelöst von der Vergangenheit und ihren konkreten Zusammenhängen lebt und „erinnert“ es sich eben leichter. Gänzlich unbefangen lässt sich dann sogar das gute alte Hakenkreuz locker wieder auftragen, ohne Magenschmerzen zu erzeugen. Man kann aber auch als Anne Frank gehen – jeder eben nach seinem Geschmack Und das Beste an alledem: Weder die Vergangenheit selbst, noch die toten Juden können sich darüber beschweren. Eine Win-Win-Situation auch für die Konstanzer Theatermacher, denen auf diese Weise das Kunststück gelingt, ein Theaterstück über Antisemitismus auf die Bühne zu bringen und gleichzeitig eben jenen Judenhass mithilfe der Kölner-Karneval-Methode zu bagatellisieren.

Derweil laufen die Vorbereitungen zur Uraufführung von „Mein Kampf“ auf Hochtouren. Gut gerüstet mit jeder Menge Hakenkreuzen und Davidsternen begrüßt man die Debatte, die, so das Theater in seiner Stellungnahme, „viel über den teils fragwürdigen Umgang unserer Gesellschaft mit der Vieldeutigkeit nationalsozialistischer Symbole und Zitate aussagt“. Ein Hakenkreuz muss also nicht zwangsläufig etwas Böses bedeuten. Es kann auch für das Gute am Bodensee stehen. So zumindest dürften es einige derer sehen, die schon ihre kostenlosen Hakenkreuz-Karten ergattert haben. Bereits fünfzig Gratis-Tickets gingen über den Tresen, teilt eine Sprecherin mit. Ein guter Anlass, in aller Unschuld einmal mehr den Anfängen zu wehren – oder auch: Theater Konstanz, bitte übernehmen Sie!

Zuerst bei den Salonkolumnisten erschienen.
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Das Putinuum Mobile

Während sich im Laufe des vergangenen Sonntags Millionen Russen an die „Wahl“urnen begaben, um sich dort zwischen Vladimir Putin und einer Hand voll Kostüm-Kontrahenten zu entscheiden, war auch in Deutschland einiges an Wahlkampf geboten. Ein AfD-Abgeordneter des Berliner Abgeordnetenhauses namens Hugh Bronson witterte amerikanische Umtriebe zwischen Moskau und Vladivostok. Seiner Ansicht nach dienten die jüngsten US-Sanktionen gegen Russland vermutlich dazu, die „Präsidentschaftswahlen zu Putins Nachteil zu beeinflussen und sich somit ein ungeliebtes Staatsoberhaupt vom Halse zu schaffen“. Derweil stellte der Büroleiter Jörg Meuthens die Frage, wo denn der Unterschied zwischen Russland und Deutschland sei, da hie wie dort das Ergebnis ja schon vorher feststünde.


Angesichts dieser intellektuellen Höchstleistungen musste FDP-Vize Wolfgang Kubicki also deutlich aufs Gas treten, um den Putin-Freunden von der AfD das Wasser zu reichen. Dem Deutschlandfunk gegenüber forderte er in gewohnter Manier eine Lockerung der Sanktionen. Die Bundesregierung solle Bereitschaft zeigen, „auf Russland zuzugehen“, so der Eintreter der sperrangelweit offenen Tore. Sonst drohe ein Kalter Krieg. Dass der schon längst im Gange ist, hat Kubicki offenbar noch nicht mitbekommen. Darüber hinaus kritisierte er die „voreilige Beschuldigung“ Russlands hinsichtlich des Giftgasangriffs auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter im britischen Salisbury. Bei der Gelegenheit enthüllte Kubicki zudem, dass das Giftgas vielmehr in einem Labor in Usbekistan erzeugt worden sei, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von den USA aufgelöst wurde. Die Amis waren‘s also, zumindest gefühlt.

Eine These, die Sigmar Gabriel zwar (noch) nicht teilt. Was aber den Umgang mit dem russischen Giftgasangriff angeht, trennt den Außenminister a.D. wenig von Wolfgang Kubicki. Auch er echauffierte sich eine Woche zuvor über die gemeine Verdächtigung der Bundesregierung und würde lieber eine UN-Organisation mit der Prüfung beauftragen. Wie man spätestens nach den Giftgas-Angriffen Assads in Syrien weiß, haben die Vereinten Nationen, ihr Sicherheitsrat im Besonderen, in solchen Angelegenheiten schließlich extra schwere Geschütze aufzufahren.

Putin und seine Freunde: Propaganda gegen Posten

Einige Tage zuvor offenbarte eine repräsentative Umfrage der WELT, dass sich die Mehrheit der Deutschen eine Annäherung an Russland wünscht. 58 Prozent der Befragten sind für ein besseres Verhältnis zu Moskau, nur 26 Prozent für mehr Distanz. 14 Prozent wiederum sind mit der deutsch-russischen Freundschaft in ihrer aktuellen Form zufrieden. Ein schöner Erfolg für Vladimir Putin und dessen Netzwerk aus Desinformationskriegern, nützlichen Idioten, bezahlten Propagandisten, Lobbyisten, Trollen und Bots, deren Bemühungen zumindest an dieser Front von Erfolg gekrönt sind. Die einen trommeln klar für Russland, die anderen wenigstens pauschal gegen alles, was Putin gefährlich werden könnte. Wieder andere kippen einfach nur Öl ins hausgemachte Feuer und kümmern sich mit konzertierten Vernebelungs-Aktionen darum, dass am Ende niemand mehr weiß, was wahr ist und was nicht und wo der Unterschied zwischen Demokratie und Autokratie liegt. Zusammen stellen sie sicher, dass eine Putin-kritische Politik keine Mehrheit bekommen kann – weder parlamentarisch, noch in Umfragen.

Infolge dessen kann Putin weiterhin das tun, was er eben so tut: Nachbarn überfallen, in Syrien mit Fassbomben um sich werfen, amerikanische Wahlkämpfe beeinflussen und lästige Exilanten auf offener Straße mitten in England vergiften. Während die Deutschen sich weniger um Außenpolitik und mehr um innere Angelegenheiten scheren, ist es in Russland genau umgekehrt. Nachdem Putin innenpolitisch und wirtschaftlich keine sonderlichen Erfolge vorzuweisen hat, konzentriert er sich auf die Pflege der postsowjetischen Seele, indem er sich in revanchistischen, imperialistischen Abenteuern übt, die Russland zurück zu „alter Größe“ führen sollen. Da ist es freilich hilfreich, wenn man im Westen auf diejenigen zählen kann, die gegen die Sanktionen mobil machen, sich für Nordstream II in die Bresche werfen, die antiwestlichen Ränder stärken, jegliche Entscheidungsfindung verunmöglichen und an der Atlantikbrücke sägen. Im Gegenzug erhalten sie Kredite, Posten bei Gazprom oder RT, propaganda-taugliche Reisen nach Syrien oder auf die Krim, glänzende Freundschaftsmedaillen und Verträge sowie ideologische Schützenhilfe zur Realisierung ihrer Systemwechsel-Phantasien, die mit denen Putins deckungsgleich sind. Auch sie sind es, die die Politik des Kreml-Chefs mitermöglichen, ihm seine Macht und seinen Oligarchen ein angenehmes Dasein garantieren. So wie in der EU niemand etwas gegen das Morden in Syrien unternehmen will, dachte in London jahrelang kein Mensch ernsthaft daran, der sich dort wohlfühlenden russischen Schwarzgeld-Prominenz den Riegel vorzuschieben. Und auch der amerikanische Präsident ist derzeit eher nicht in der Stimmung, Vorsorge dafür zu treffen, dass sich die russische Einmischung in den Wahlkampf nicht wiederholt. „Warum sollte Putin sowas tun?“, wird oft ganz unschuldig gefragt, jüngst in Sachen Skripal beispielsweise. Putins Antwort darauf wäre: Warum nicht?

Habemus Putin!

Und so wurde gestern unter wehenden Fahnen und lautstarken „Rossija!“-Rufen in Moskau der völlig überraschende Wahlsieg des neuen alten Kremlchefs zelebriert. Aber keineswegs nur dort. Schon vor einem Monat mahnte ein Berliner Historiker zu mehr Demut, vielmehr „sollten wir dankbar sein, dass Putin an der Macht ist“. Umgehend nach Bekanntgabe des ersten Wahl-Ergebnisses wiederum meldeten sich Alexander Gauland und Jörg Meuthen zu Wort und gratulierten ihrem dem russischen Staatspräsidenten zu seiner Wiederwahl. „Wir wünschen ihm viel Erfolg und politische Umsicht für seine nächste Amtsperiode“, hieß es an dieser Stelle. Und ja, mehr „Umsicht“ bei Giftgasangriffen und gewaltsamen Grenzverschiebungen wäre tatsächlich eine feine Sache. Bei der Wahl seiner Partner und Freunde hat Putin dagegen schon genug Umsicht bewiesen, was man auch an Glückwunsch-Telegrammen wie diesen gut erkennen kann. Gute Freunde kann eben niemand trennen.

Zuerst am 19. März 2018 bei den Salonkolumnisten erschienen.
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Zweierlei Säbelrasseln

Vladimir Putins alljährliche Rede an die Nation ist schon ein paar Stunden alt, und im Auswärtigen Amt tüfteln findige Diplomaten immer noch an einer passenden Reaktion. Der Kreml-Chef sprach von Interkontinentalraketen, atombetriebenen Marschflugkörpern, Waffen, die mit herkömmlichen Mitteln nicht abzufangen seien - da braucht es Fingerspitzengefühl, um die zarten Gemüter in Moskau nicht unnötig zu irritieren. Der erste Entwurf eines Praktikanten - "Sigmar Gabriel zeigte sich ob des Aufrüstungsprogramms der russischen Regierung zutiefst besorgt. 'Es ist nicht zielführend, die Lage durch Säbelrasseln und Kriegsgeheul weiter anzuheizen', so der geschäftsführende Außenminister. Er warnte vor einem atomaren Wettrüsten und rief den Kreml zur Besonnenheit auf." - landete umgehend in Ablage P. Ein solches Wording ist schließlich exklusiv für die Amerikaner und die Nato reserviert.

Nebenan im Wirtschaftsministerium ist man dagegen schon weiter. Nachdem bekannt wurde, dass mutmaßlich russische Hacker das Datennetzwerk des Bundes und der Sicherheitsbehörden wohl über mehrere Monate hinweg infiltriert haben, meldete sich umgehend Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries zu Wort. „Wenn es irgendwas mit der [russischen] Regierung zu tun hätte, dann würde es natürlich Probleme nach sich ziehen“, gab die Sozialdemokratin zu bedenken. Im Zweifel für den Angeklagten! Wer Hacker in den Bundestag, in den US-Wahlkampf, in die Ukraine und ins Baltikum entsendet, muss schließlich noch lange nicht vor den Haustüren von Frau Zypries und Herrn Gabriel tätig geworden sein. Gut möglich, dass es auch patriotisch veranlagte Hacker in Elternzeit waren, die dieses Jahr keinen Urlaub auf der Krim machen wollten. Dagegen kann Putin dann eben nichts machen.

Wobei die Wirtschaftsministerin freilich recht hat. Es zöge in der Tat "Probleme nach sich", wenn die Cyberangriffe einen Kreml-Hintergrund hätten. Vor allem für Frau Zypries selbst. Denn im Lichte dessen würden ihre Warnungen in Richtung USA, denen sie angesichts der Verschärfung der Russland-Sanktionen "völkerrechtswidriges Verhalten" vorwarf, doch etwas suboptimal erscheinen. Schon ein wenig peinlich, wenn man sich erst für den Kreml ins Zeug legt und der es einem dann mit Hackereien dankt.

Insofern bietet es sich an, skeptisch zu bleiben und abzuwarten. Dem Vernehmen nach sollen die Hacker auch einige Zeit im Netzwerk des Auswärtigen Amts verbracht haben. Und das wiederum spricht eher gegen eine russische Beteiligung. Denn warum sollte man als Hacker seine Zeit mit Sigmar Gabriels Emails verplempern, wenn man sich doch ohnehin auf Gas-Gerd Schröder verlassen kann?
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Abschieben für Deutschland

Es ist gefühlt eine halbe Ewigkeit her, als AfD-Chef Alexander Gauland vorschlug, die damalige Staatsministerin Aydan Özoguz "in Anatolien zu entsorgen". Wesentlich jüngeren Datums ist die an "Kümmelhändler und Kameltreiber" gerichtete Aufforderung André Poggenburgs, sich "dorthin zu scheren", wo sie seiner Ansicht nach hingehören - nämlich "weit, weit, weit, hinter den Bosporus, zu ihren Lehmhütten und Vielweibern". Das gefiel dem Aschermittwochs-Publikum, das beim Stichwort "Cem Özdemir" wiederum wie auf Kommando "ABSCHIEBEN!!!" zurückgröhlte. Und nun meldet sich Alice Weidel zu Wort, um Deniz Yücel nicht nur sein Journalist-, sondern auch sein Deutsch-Sein abzusprechen. Wer Deutscher ist und wer nicht, und wo er oder sie sich dementsprechend hinzubegeben hat, ist innerhalb der AfD zweifellos eine Frage von außerordentlicher Relevanz. Nur die Antworten darauf changieren noch ein wenig. Ein Pass allein, also geltendes Recht, macht jedenfalls noch keinen Deutschen. Soviel steht fest. Was gibt aber dann den Ausschlag? Die Hautfarbe, die aus alternativer Sicht ja auch bei Boateng und Noah Becker eine Rolle spielt? Der Geburtsort der Großeltern? Die Gesinnung? Eine Mischung aus alledem? Poggenburg macht daraus zum Glück keinen Hehl. Er führt einen deutsch-türkischen Verband, dessen Statement ihm nicht passt, ins Feld, nur um anschließend allen hier lebenden Deutschen mit türkischen Wurzeln kollektives Koffer-Packen zu empfehlen. Wobei der Verband sowieso nur ein Vorwand ist, den Poggenburg und die seinen gar nicht brauchen, um zu ihrer „Ihr gehört hier nicht her!“-Überzeugung zu gelangen. Es klingt nur besser, wenn man es dann anschließend mal wieder nicht „so gemeint“ haben will.

Gauland und Weidel berufen sich dagegen auf ihre ungeschriebene Entscheidungsbefugnis qua Biodeutsch-Sein: Wer eine "falsche Herkunft" und noch dazu eine falsche Gesinnung hat, gehört nicht dazu. Und wer nun die passenden Wurzeln und Meinungen hat, entscheiden Gauland und Weidel. Einen Yücel allein kann man gerade noch so hinnehmen. Aber wehe, er wird übermütig und macht Witze, die der AfD nicht gefallen. Dann ist Schluss mit lustig - genauso wie bei Frau Özoguz, die ihr Recht auf nicht-AfD-konforme Äußerungen allein aufgrund der Tatsache verwirkt hat, dass ihre Eltern nicht hier geboren wurden. Während Gauland und Weidel vorerst "nur" ein Deutsch-Sein unter Vorbehalt und mit 2.Klasse-Ticket propagieren, ist Poggenburg schon einen Schritt weiter und möchte präventiv gegen die durch "aufmüpfige Ausländer" drohende Gefahr vorgehen. Schließlich lauert in jedem Türken (also dem, den man dafür hält) wahlweise ein kleiner Yücel, ein IS-Kämpfer oder mindestens ein "vaterlandsloser Geselle".

Nun gibt es durchaus gute Gründe, Frau Özoguz auf Grundlage ihres bisherigen Schaffens für eine Fehlbesetzung zu halten. Man kann ebenso Yücels Sarrazin-Kolumne für geschmacklos und bestimmte Verlautbarungen mancher Migranten- und Islam-Funktionäre für fragwürdig halten. Bloß ist es ja ohnehin nicht der inhaltliche Streit unter Individuen, den die AfD sich auf die Fahnen schreibt. In Özoguz wie in Yücel sieht man nicht die Politikerin oder den Journalisten, sondern in allererster Linie den „Ausländer“. Es ist dementsprechend das große Ganze, das der AfD am Herzen liegt: das Deutsch-Sein an sich und die exklusive Mitgliedschaft in diesem Nobel-Volk, als dessen strenger Türsteher man sich versteht. Um dieses Deutsch-Sein zu definieren, bedient man sich als "Partei des Rechtsstaats" dann mit Vorliebe bei Erdogan und mischt noch eine großzügige Portion Abstammungs-"Lehre" mit rein.


Das passiv-aggressive Grundrauschen, das inzwischen entstanden ist, sorgt am Ende für eine besonders pikante Note: groß im "Entsorgen", genauso groß aber auch im kollektiven Mimimi, und daher doppelt so groß in jammer-deutschen Gewaltfantasien, die derzeit die Kommentarspalten zum Thema Yücel, diesem „Feind des Volkes“, einnehmen. Was wiederum die Frage aufwirft, wie weit es mit den "deutschen Patrioten" her ist, wenn sie nicht einmal einen Deniz Yücel aushalten können. Aber Diskrepanzen dieser Art müssen weder den Experten für Kümmelhandel noch den für angewandte Entsorgung sonderlich tangieren. Man wehrt sich schließlich nur gegen all die Demütigungen, die man als Deutscher gemeinhin zu erleiden hat. Ganz wie immer also.
 
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Dresden: Festspiele des Selbstmitleids

Alle Jahre wieder richtet Dresden zum Jahrestag der alliierten Luftangriffe beachtliche Gedenkevents aus. Auf Selbstmitleid und Entkonkretisierung der Geschichte folgt nun ein Vorschlag aus der AfD, der den 13. Februar zum Feiertag befördern soll. Björn Höcke gefällt das.

 
 
Der Dresdner an sich fällt nicht nur durch sein fideles Wesen auf. Was ihn zugleich von allen anderen west- und ostdeutschen Großstädtern unterscheidet, ist die Ernsthaftigkeit, mit der er die Rolle seines Lebens spielt: die des Opas, der vom Krieg erzählt. Jahr für Jahr richtet Dresden anlässlich der Bombardierung der Stadt am 13. Februar 1945 ein beachtliches Gedenkevent aus. Traditionen muss man schließlich pflegen. Das wusste schon die SED-Führung, die den Jahrestag der verheerenden Angriffe durch „anglo-amerikanische Luftgangster“ zu einem antiimperialistischen Propaganda-Spektakel beförderte. Erfunden hat die DDR derlei Folklore indes jedoch nicht. Zu verdanken ist sie vielmehr NS-Propagandaminister Joseph Goebbels, der sich schon in den Trümmern der zerstörten Stadt daran machte, der Katastrophe einen „Volksgemeinschaft“-tauglichen Spin zu verpassen.

Natürlich, das alliierte Kalkül vom „moral bombing“, das in Dresden 25.000 Tote forderte, ging ohnehin nicht auf. Die Deutschen folgten ihrer Führung unbeirrt, schickten bis zum Schluss Juden in den Tod und wussten ohnehin genau, wo das Böse lauert – nicht in der Wolfsschanze, sondern im Westen. Dennoch ließ Goebbels nichts anbrennen und hängte der damals bekannten Zahl der Toten noch schnell eine Null an. Bestattungslisten sprachen von 20.204 Toten, die Propaganda von 202.040. Fertig war der Mythos, der in der DDR weiter gedieh und auch die Wende, Historikerkommissionen und seriöse Forschung unbeschadet überlebte. Wer heute einen Dresdner beleidigen möchte, erzielt mitunter eine durchaus ordentliche Trefferquote, wenn er von 25.000 Todesopfern spricht.

Geschichte ist das, was man für sich selbst daraus macht

Die Dresdner verfügen über eine einzigartige Begabung, sobald es darum geht, sich selbst zum unschuldigen Opfer der Geschichte zu befördern. Einer Geschichte, die laut sächsischer Überlieferung natürlich erst in diesem Februar 1945 losging – also zu dem Zeitpunkt, als auch die Dresdner selbst den bis dahin schon sechs Jahre andauernden Krieg zu spüren bekamen. Von da an mauserten sich die Elbflorenz-Bewohner zu Experten für angewandte Kritik einer auf die Zivilbevölkerung ausgerichteten Kriegsstrategie. Als die deutsche Luftwaffe ihre Bomben etwa über Warschau und Coventry abwarf, waren die Dresdner dahingehend bedauerlicherweise noch nicht so weit. Einige von ihnen sind es bis heute nicht. Insofern ist es nur konsequent, dass daneben auch der deutsche Vernichtungsfeldzug im Osten sowie die Gaskammern ihren Platz im örtlichen Geschichtsbuch räumen müssen. An ihre Stelle tritt die vom Bombenkrieg betroffene Oma, die exklusiv und ausschließlich als Bombenopfer betrachtet wird. Dass Oma nicht nur Opfer der britischen Luftangriffe, sondern womöglich auch eine glühende Nationalsozialistin war; dass beides eventuell sogar in Zusammenhang zueinander steht – wenngleich die Bomben keinen Unterschied zwischen Tätern, Mitläufern, Unschuldigen und Verfolgten machten –, gilt von Dresden aus betrachtet nicht selten als pure Ketzerei. An der Elbe hat man es lieber bekömmlich. Geschichte ist nicht das, was war, sondern das, was man für sich selbst daraus macht.

Über Jahrzehnte hinweg bildete der 13. Februar in Dresden den Höhepunkt der Festspiele des Selbstmitleids. Heute ist das weitestgehend noch immer so, nur etwas eleganter verpackt. Neonazis, die einen „Bombenholocaust“ beklagen, treffen auf Antifa-Aktivisten. Daneben entsteht eine Lichterkette für all jene, die an diesem identitätsstiftendem Tag nicht direkt in die Rauferei einsteigen wollen, allerdings auch nicht dazu imstande sind, einfach daheim zu bleiben und den Toten ihre Ruhe zu lassen. Die Stadt Dresden unterhält eine eigens dem 13. Februar gewidmete Website mit einem reichlich gefüllten Terminkalender, der für jeden etwas bietet: vom Spaziergang auf dem „Dresdner Gedenkweg“ über einen „International Peace Slam“ („internationale Gastwissenschaftler berichten (…) über ihre Friedenserfahrungen“) bis hin zum Gedenken in, vor oder unter der Frauenkirche bis spät in die Nacht. Wer es eilig hat, kann im Rahmen des „dezentralen Gedenkens“ auch schnell und unverbindlich einen von acht Gedenkorten aufsuchen.

Überall Opfer, nirgendwo Täter

Über alledem schwebt das offizielle Gedenk-Motto der Stadt: „Aus Anlass der Bombardierung unserer Stadt im Februar 1945 erinnern wir an die Opfer von Nationalsozialismus und Krieg, Hass und Zerstörung.“ Ein beachtliches Unterfangen, das allerdings auch ein paar Komplikationen in sich birgt. Immerhin freuten sich nicht wenige Opfer der Nazis  über die im gleichen Atemzug erwähnte Zerstörung durch die Alliierten, die eben auch ein Ende des Grauens versprach. Die Luftangriffe und das folgende Chaos waren es, die den Dresdner Juden und deren Angehörigen, die schon auf der Deportationsliste standen, das Leben retteten. Aber über derlei Feinheiten muss man sich an der Elbe keine Gedanken machen. Verfolgte hin, Verfolger her, am Ende waren wohl alle „Opfer von Nationalsozialismus“ – was ein wenig so klingt, als gäbe es mehrere Nationalsozialismen, wodurch das Original nicht ganz so auffällt.

Möglicherweise ist die Erwähnung der Opfer des Nationalsozialismus aber auch nur eine Pflichtübung, die sich weniger an die Dresdner, sondern vielmehr an Nicht-Dresdner richtet, denen das ritualisierte Selbstmitleid sonst nur schwer zu vermitteln wäre. Wie könnte man schließlich etwa einem Hamburger, dessen Stadt durch alliierte Bombenangriffe 34.000 Tote verzeichnete, das alljährliche Spektakel verständlich machen? Wie will man erklären, dass die einen ihr Erbe akzeptieren können, man selbst aber nicht darüber hinwegkommt? Betrauert man rund um die Elbe überhaupt noch wirklich die Opfer, oder instrumentalisiert man sie nicht vielmehr?

Ein Feiertag zur kollektiven Entspannung

Die Rede von „Hass und Krieg“ wiederum mutiert derweil zu wohltuender Gymnastik, dank der sich alle noch vorhandenen Verspannungen lösen und die konkreten Zusammenhänge wie von selbst verschwinden. „Nie wieder!“ klingt gut, „Nie wieder Krieg!“ noch viel besser. Ob damit der Krieg der Nazis oder der der Alliierten, der Feldzug im Namen der Vernichtung oder der Krieg gegen das Böse gemeint ist, muss man als Dresdner gar nicht erst konkretisieren. Jeder kann sich selbst aussuchen, wo er die Täter, wo die Opfer verortet. All das ist bequem und korrespondiert bestens mit der DNA der Veranstaltung, die sich hauptsächlich aus Selbstmitleid zusammensetzt. Ausschlaggebend ist daher auch nicht, ob die Stadt in diesen Tagen Stolpersteine, Friedenswissenschaftler oder Gottesdienste aufs Programm setzt, sondern die Tatsache, dass sie diesen Tag überhaupt zum Spektakel befördert.

Für manch einen ist all das aber noch lange nicht genug. Erst vor kurzem drang aus der sächsischen AfD der Vorschlag hervor, den 13. Februar „als Gedenktag zu einem staatlichen Feiertag“ zu befördern. Eine interessante Idee, die der laut Björn Höcke dringend benötigten „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ sehr nahe kommt. Nicht nur, dass damit den berufstätigen Dresdnern, die es bloß zum „dezentralen Gedenken“ in der Mittagspause schaffen, ein großer Gefallen getan wäre. Es würde auch die Verkrampfungen derjenigen lindern, die sich schon seit Jahrzehnten durch ihre Aufrechnungs-Künste hervortun und die Opferzahlen in schwindelerregende Höhen schrauben – auf dass die eigene Weste etwas weniger düster erscheint. Offenkundig sind ihnen 25.000 Opfer nicht genug. Wer aber einen gesetzlichen Feiertag hat, hat recht. Diskutieren muss er dann nicht mehr. Der 9. November und der 27. Januar sind bundesweit nur Gedenk-, keine Feiertage. Der 13. Februar als Feiertag würde daneben in hellem Glanze erstrahlen und die Herzen jener erwärmen, in deren Welt vor allem die Deutschen die Opfer der Geschichte waren.

AfD-ler, schaut nach Polen!

Vielleicht sollte man in und rund um die AfD aber auch nach Polen blicken, wo man dahingehend schon weiter ist. Dort möchte die Regierung derlei Angelegenheiten nun per Gesetz klären, womit jegliche Thematisierung der Nazi-Kollaboration von Polen während der deutschen Besatzung unterbunden werden soll. Offiziell argumentiert man in Warschau mit der in der Tat falschen Bezeichnung „polnisches Todeslager“ und dem „guten Ruf Polens“. Zahlreiche Regierungen, allen voran die israelische, sind davon jedoch weniger angetan. Auf die Kritik Netanyahus hin entlud sich im Netz ein antisemitischer Shitstorm, der sich vor allem gegen die israelische Botschaft in Polen richtete. Mittlerweile, so berichtet die Botschafterin, verbreiten auch polnische Medien derlei Äußerungen. Ein Berater der PiS-Regierung attestierte den Israelis prompt Gefühle der „Scham“ aufgrund der „Passivität“ der Juden während des Holocausts. Will heißen: Selbst schuld, wenn man sich zur Schlachtbank führen lässt. Eine kreative Auslegung, die auch insoweit beachtlich ist, als die polnisch-israelischen Beziehungen bislang nicht die schlechtesten waren. Offenkundig ist selbst ein Land, das tatsächlich in besonderem Maße unter Nazis und Sowjets zu leiden hatte, nicht vor den Reizen der alles umfassenden Opferrolle gefeit.

In Dresden hingegen dürften Klitterversuche dieser Machart auf Sympathie stoßen. Der Trend geht zur Zweit-Geschichte. Warum nicht auch in Sachsen dem potentiellen Feiertag ein Gesetz zur Seite stellen? Wer die ausschließliche Opferrolle der Dresdner leugnet, wird mit Bewährung und verbindlicher Teilnahme bei Pegida nicht unter 12 Monaten bestraft. Klingt verrückt? Gewissermaßen. Aber Arthur Harris selbst hätte sicherlich auch jeden für verrückt erklärt, der ihm 1945 eine identitätsstiftende Rolle im Seelenhaushalt Dresdens vorausgesagt hätte.

Zuerst bei den "Salonkolumnisten" erschienen.
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Wenn der Nahost-Korrespondent zweimal wegsieht

Nachdem der Iran in den letzten Jahren seinen Einfluss in der Region erfolgreich ausgeweitet hat, ist er am vergangenen Samstag dort angekommen, wo er von Anfang an hinwollte: in der direkten Konfrontation mit der israelischen Armee an der syrisch-israelischen Grenze. Eine iranische Drohne drang in den israelischen Luftraum ein, wurde jedoch rasch von der israelischen Luftwaffe abgeschossen. Die wiederum flog daraufhin Angriffe auf iranische Stellungen in Syrien, wobei eine F-16 der Israelis ins Feuer der syrischen Luftabwehr geriet und abstürzte. Die Piloten - einer leicht verletzt, einer schwer - konnten sich per Schleudersitz auf israelischen Boden retten.

Soweit der Stand der unheimlichen Dinge, auf den nun die gut eingeübten Wortmeldungen folgten. Immerhin, das amerikanische Außenministerium verurteilt die iranische Aggression, während Vladimir Putin, der Heiland im "Kampf gegen den Terror" und bester Freund Assads und der Mullahs, Netanyahu dazu auffordert, jegliche "Eskalation" in Syrien zu unterbinden und die Souveränität Syriens zu achten. Im Eskalationsgewerbe kennt er sich schließlich aus. Der Chef der UN fordert ebenfalls mehr Deeskalation und verabschiedet sich danach wieder ins wohlverdiente Wochenende. In Gaza und im libanesischen Hisbollah-County wird gefeiert, in den Straßen von Damaskus verteilt man zur Feier des Tages Süßigkeiten. In Europa herrscht derweil das übliche Schweigen. Auch in Deutschland fällt niemandem etwas ein, was in Anbetracht der vorangegangen Wortmeldungen in Sachen Iran - etwa Sigmar Gabriels Rat an die iranischen Demonstranten, es nicht zu übertreiben - schon eine positive Entwicklung ist. Keinen wirklichen Außenminister zu haben ist eben auch nicht das Schlechteste. Einzig Frank-Walter Steinmeier meldet sich zu Wort. Und zwar mit einem Glückwunsch-Telegramm in Richtung Teheran anlässlich des 39-jährigen Jubiläums der Islamischen Revolution, das am Sonntag feierlich von denen begangen wurde, die zeitgleich Frauen ohne Kopftuch in Folterknäste sperren. Man muss eben Prioritäten setzen, gerade auch als Deutscher.


Was den europäischen Diplomaten an Worten fehlt, bügelt nun allerdings das öffentlich-rechtliche Fernsehen mühelos wieder aus. Der ARD-Israel-Korrespondent verrät beispielsweise in der Tagesschau, die israelische Regierung würde sich vom "Iran bedroht fühlen". Also ungefähr so, wie sich manche Menschen von Spinnen "bedroht fühlen". Gefühle sind bekanntermaßen eine recht subjektive Angelegenheit. Gut möglich, dass die Israelis einfach gerade diverse Schwankungen ihres Gefühlshaushalts durchleben und sich die iranische Militärpräsenz vor der Haustür sowie die jahrelangen Vernichtungsdrohungen der Mullahs nur einbilden. Die ARD hält sich da lieber bedeckt. Trotz des offensichtlichen Drohnenmanövers aus iranischer Hand und trotz etlicher Zeugnisse der iranischen Militärpräsenz in Syrien zitiert man lieber beide Seiten: die "Behauptungen" Netanyahus, die Dementis der Iraner. Am Ende kann der Zuschauer dann auswürfeln, ob das iranische Regime nun in Syrien präsent ist oder nicht. Dass Israel sich nicht nur bedroht fühlt, sondern auch bedroht ist, muss man ja nicht gleich verraten. Wäre schließlich schade um das beliebte Narrativ vom stetig aggressiv gestimmten Israel.

Nicht minder aufschlussreich geht es auch beim "heute journal" zu. Ob Netanyahu denn jetzt wirklich "sein Land hinter sich" hätte, nachdem er auf "einen Drohnenflug mit zwölf Bombenangriffen reagiert hat", möchte Claus Kleber von Nicola Albrecht in Tel Aviv wissen. Die bejaht, mit ernster Miene, hat sie doch bedauerlicherweise keinen Israeli finden können, der mit der Bedrohung der eigenen Existenz auch gut leben könnte. Ohnehin ist der Fall für sie klar: "Beide Seiten spielen mit dem Feuer", erklärt die ZDF-Korrespondentin dem deutschen Publikum, so als ginge es um eine Auseinandersetzung im Sandkasten, bei der es nur selten Unschuldige gibt. Dass beide Seiten "rote Linien" austesten, will sie ebenso herausgefunden haben. Wo ihre persönliche rote Linie verläuft, bei Raketenalarm in Tiberias oder erst dann, wenn der "red alert" in ihrem eigenen Büro in Tel Aviv ertönt, lässt sie indes offen. Ohnehin beunruhigt sie vielmehr, dass Netanyahu "diesen Vorfall nutzen wird, um sein außenpolitisches Mantra, nämlich dass Iran der eigentliche Aggressor hier in der Region ist, der Böse, noch einmal auf der internationalen Plattform intensivieren wird". Und das, so der unausgesprochene Gedanke, wäre dann wirklich der Ernstfall. Da wüssten selbst erfahrene Nahost-Korrespondenten nicht mehr weiter. Ein drohender Krieg zwischen dem Iran und Israel auf dem Golan und im Libanon, Raketen, Tote, nukleare Ambitionen der Mullahs, die über alledem schweben - nicht schön, aber auch nicht sonderlich erwähnenswert, und erst recht nicht so schlimm wie die Vorstellung, dass ein israelischer Regierungschef etwas gegen den Iran sagen könnte. Nutzt er ja eh nur für seine politischen Zwecke, dieser Schlingel.

Vielleicht muss man die Israel-Korrespondenten von ARD und ZDF aber auch einfach beneiden; um ihre Fähigkeit, selbst in Zeiten der Krise einen klaren Kopf zu bewahren und allen Widerständen zum Trotz der eigenen Linie treu zu bleiben: im Zweifel gegen Israel.

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