27. Januar: Einmal Gedenken mit Israelkritik, aber bitte ohne Juden!

Gerne rühmt sich das offizielle Deutschland seiner Vergangenheitsbewältigung. Gleich nebenan treffen jedoch immer häufiger Israelkritiker und Freunde des Schlussstrichs aufeinander, die den Juden Auschwitz gleichermaßen schwer verzeihen können. Über Schuldabwehrspieler, professionelle Banalität und deutsche Entlastungsrituale.  
 

Der 27. Januar ist ein guter Tag, um den Deutschen einmal zu gratulieren. Denn aus ihrer Geschichte haben sie nicht nur vieles gelernt. Tatsächlich lernen sie sogar von Tag zu Tag auch noch etwa dazu. Erst am vergangenen Montag bot sich hierzu erneut eine Gelegenheit. Zur besten Sendezeit, ab etwa 23 Uhr, konnte das historisch interessierte Publikum sich gleich an zwei Dokumentationen erfreuen, die die „deutsch-jüdische Symbiose“ tangieren. Der Film „Hitlers letzte Mordgehilfen?“ gewährte Einblicke in die Arbeit der Staatsanwälte, die sich auf die Spuren der noch wenigen lebenden KZ-Wächter begeben. Kümmerte sich die deutsche Justiz über sechzig Jahre ausschließlich um die Mörder, verfolgt sie seit kurzem auch die Beihilfe zum Massenmord. So zeigt die Dokumentation vorrangig Ermittler, die auf dem Gelände des ehemaligen KZs Stutthoff nicht mehr bestehende Wachtürme rekonstruieren und der Frage nachgehen, ob man von dort aus den ein oder anderen Mord hätte wahrnehmen können – andernfalls wird es mit der Anklage schwieriger. Nicht auszuschließen, dass jemand ein KZ bewachte, ohne dabei jemals etwas Mörderisches gesehen oder auch nur gehört zu haben. Im Zweifel für den Angeklagten. Ein deutlicher Hinweis für die Existenz des „Schuldkults“, von dem nicht nur AfD-Spitzen wie Alice Weidel zu berichten wissen.

So wirklich zur Sache ging es aber erst eine Dreiviertelstunde später. Unter dem Motto „Der Mossad, die Nazis und die Raketen“  behandelte die nun folgende Doku das gegen Israel gerichtete Raketenprogramm Gamal Abdel Nassers, an dem sich in den 60er-Jahren auch deutsche Ingenieure mit NS-Hintergrund beteiligten. Der Zuschauer erfährt von Mossad-Chef Isser Harel, dem damals „fast jedes Mittel recht“ war, um das ägyptische Treiben zu stoppen – und davon, wie ihm dabei auch deutsche Raketen-Experten durch eine Briefbombe und ein Entführungskommando zum Opfer fielen. Israelische Täter, deutsche Leidtragende: Die Raketen-Affäre ist eine Offenbarung für alle, die schon immer um die Skrupellosigkeit der Zionisten wussten. Umso mehr, da die ägyptischen Raketen damals noch nicht lenkfähig, also „keine Bedrohung“ für Israel waren, wie die Stimme aus dem Off im Chor mit weiteren Zeitzeugen latent triumphierend erklärt. Am Ende des Abends steht es 1:1 zwischen Deutschen und Juden. Zumindest gefühlt.

Nun ist es durchaus vorstellbar, dass bei den Programm-Verantwortlichen im Ersten lediglich Kommissar Zufall am Werk war. Denkbar wäre aber auch, dass seelenhygienische Erwägungen zumindest unterbewusst eine Rolle spielten. Erinnern und Entlastung, Stolpersteine und Israelkritik, Gedenken und gute Ratschläge an die israelische Regierung – es ist exakt dieser Rhythmus, in dem sich die Vergangenheit schon seit einiger Zeit besonders entspannt bewältigen lässt. Die Gründung des Staates Israel war nicht nur ein Glücksfall für die Juden, sondern auch für die Deutschen, die seither penibel Strichlisten über die Vergehen der Juden zwischen Mittelmeer und Jordan führen. Wenn nun sogar die Israelis in Gaza ein „Ghetto“ betreiben, wiegt der Dienst der Großväter zwischen Warschau und Auschwitz gleich viel weniger schwer.

Erinnern und bewältigen? Fein, aber bitte nicht übertreiben!

Inzwischen sind 22 Jahre vergangen, seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus ernannte. Seither gedenkt man in Deutschland an diesem Tag nicht, wie es kraft eines UN-Beschlusses in anderen Ländern üblich ist, der Opfer der Shoa, sondern universell aller Opfer, die auf das Konto der Nationalsozialisten gingen. Das ist auf den ersten Blick löblich, auf den zweiten jedoch auch ein wenig bequem. Erinnerung, so scheint es, ist eine gute Sache. Aber es damit übertreiben, gar an die Wurzel des Nationalsozialismus, nämlich den Judenhass gehen, muss man ja nun auch nicht. Man hält Reden, legt Kränze ab und weiht Gedenkstätten ein. Man rühmt sich der Auschwitz-Prozesse, der „Wiedergutmachungs“-Zahlungen und des „jüdischen Lebens“, das hie und da unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindet. Das alles sieht gut aus und fühlt sich noch besser an. Vor allem aber beruht es größtenteils auf den Verdiensten weniger, deren Aufarbeitungs-Bemühungen lange Zeit auf Widerstände stießen.

Dass Fritz Bauer sein Wissen über den Aufenthaltsort Adolf Eichmanns lieber mit dem Mossad als mit deutschen Behörden teilte, dass die Verjährung von Mord – und damit auch die des Völkermords der Nazis – erst nach einigem Hin und Her aufgehoben wurde, darüber lässt sich treffend schweigen. Der Erinnerungskultur wird zwar häufig nachgesagt, lediglich ein Elitenprojekt zu sein. In Wirklichkeit ist sie allerdings nicht einmal das. Es sei denn, man hält das renommierte „Institut für Zeitgeschichte“, das über Jahrzehnte ein Erscheinen des von Raul Hilberg verfassten Standardwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“ behinderte, für eine gänzliche unelitäre Veranstaltung. Frankreich brachte Claude Lanzmanns „Shoa“ hervor, die USA die weltweit beachtete Serie „Holocaust“. In Deutschland setzt man lieber auf hitlerbärtige Satire-Produktionen, auf „Er ist wieder da“, auf Guido Knopp und Hitlers Frauen und immer öfter auch auf Entspannungsübungen, die Titel wie „Unsere Väter, unsere Mütter“ tragen. Während der amerikanisch-israelische Historiker Saul Friedländer sein mehrfach ausgezeichnetes Werk „Das Dritte Reich und die Juden“ vollendete, kümmerte sich das offizielle Deutschland emsig um die Bombenangriffe der Alliierten. Dass die relevanten Forschungen zur Shoa weniger von deutschen Historikern ausgingen und überwiegend von Autoren aus dem Ausland stammen, kommt in Sonntagsreden allerdings nicht so gut an.

Zwischen Wanderzirkus und „Buchenwald Libre“

Seit je her rühmt sich das Land der Dichter und Denker seiner eigenen Tiefsinnigkeit. Mit den vermeintlich „oberflächlich-kommerziellen“ Kulturprodukten jenseits des Atlantiks will es wenig gemein haben. In Sachen Erinnerung ist es jedoch nahezu umgekehrt. Deutsches Gedenken zählt mehr auf Effekte denn auf Substanz. Entscheidend ist nicht der Inhalt, sondern die Verpackung. Die Deutsche Bahn beispielsweise hielt es für eine gute Idee, einen ICE nach Anne Frank zu benennen. Immerhin stehe sie „für Toleranz und für ein friedliches Miteinander verschiedener Kulturen“, was „in Zeiten wie diesen, wichtiger denn je“ sei. Ganz so, als hätte es sich bei Anne Frank lediglich um eine verhinderte Vorkämpferin im Dienste der multikulturellen Gesellschaft, bei den Nazis dagegen um miesepetrige Spielverderber mit Aversion gegen ein „friedliches Miteinander“ gehandelt. Etwas später stellte das „Zentrum für politische Schönheit“ dem AfD-Vergangenheitsexperten Björn Höcke ein Holocaust-Mahnmal vor die Tür – und demonstrierte damit, dass sich das Andenken an die die ermordeten Juden inzwischen auch mühelos als Wanderzirkus nutzen lässt. Im Berliner Ensemble wiederum stehen heute keineswegs nur erinnerungstechnische Workshops und Podiumsdiskussionen auf dem Programm. Nach getaner Gedächtnisarbeit kann man dort ebenso Party machen. „Reden, feiern und trinken – ohne dabei zu vergessen“ lautet das Gebot der Abendstunde. Ob das Barmenü auch „Buchenwald Libre“ oder „Auschwitz Sunrise“ führt, ist hingegen nicht bekannt.

Andernorts ist die Vergangenheitsbewältigung da schon weiter. Erst neulich führte Alexander Gauland in seiner Kyffhäuser-Rede das allgemeine Recht ein, sich nicht nur „unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen“. Das Recht, „stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, reklamierte er bei der Gelegenheit für sich und die seinen gleich mit. Wenn schon, denn schon. Dabei muss man dem AfD-Chef zugestehen, auf diese Weise immerhin neue Trends zu setzen. Während die einen noch leugnen und die anderen relativieren (Dresden! Rheinwiesen!), begibt sich Gauland ohne Umschweife auf die Zielgerade und rehabilitiert, worum andere noch mühselig krebsen. Schließlich steht für aufrechte Patrioten viel auf dem Spiel: Erst mit einer ordentlichen Vergangenheit kann auch eine strahlende Zukunft entstehen. Es ist ein Jahr her, da Björn Höcke die „systematische Umerziehung“ beklagte, mittels derer die Alliierten „unsere Wurzeln“ hätten roden, „unsere kollektive Identität“ hätten „rauben“ wollen. Wer heute eine Zukunft haben will, brauche eine „Vision“, die aber nur dann entstehen könne, „wenn wir uns selber finden“, so Höcke. Und weiter: „Selber haben werden wir uns nur, wenn wir wieder eine positive Beziehung zu unserer Geschichte aufbauen. (…) Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!“

Der Selbstfindungstrip des Björn Höcke: eine zutiefst deutsche Angelegenheit

Es wäre naheliegend, den Selbstfindungstrip des Björn Höcke als Zweck an sich zu betrachten; als bloße Entspannungsmaßnahme für Menschen, die Geschichte mit einem Selbstbedienungsrestaurant („Eine Portion Stauferkaiser mit Bismarck, aber bitte ohne Holocaust!“) verwechseln. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass seine Übungen das Mittel zum Zweck darstellen. Das AfD-interne Navigationsgerät gibt „Zurück zu deutscher Größe“ als Ziel vor. Auf dem Weg dorthin könnte alles so schön und unbeschwert sein – wenn da nur nicht die toten Juden mitsamt der Erinnerung an sie im Weg herum stehen würden. Nur die „erinnerungspolitische Wende“ kann für freie Fahrt sorgen. Einer Erhebung der Bertelsmann-Stiftung zufolge wollen 55 Prozent der Deutschen „nicht mehr so viel über die Judenverfolgung reden“ und diesbezüglich einen „Schlussstrich“ ziehen. 66 Prozent „ärgern sich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden“.  Unter den jüngeren Befragten (18 bis 29 Jahre) sind es 79 Prozent. Die AfD mag zwar formal eine 13 Prozent-Partei sein. Die Mission Höckes hat allerdings deutlich mehr Potenzial.

Vor allem jedoch harmoniert sie perfekt mit anderen Bewältigungsstrategien, die schon länger zum guten Ton gehören. Brennt etwa am Brandenburger Tor die israelische Fahne, so konsultiert man in gewissen Kreisen keinesfalls die Feuerwehr, sondern das Strafgesetzbuch – um zu unterstreichen, dass derlei Handlungen keinesfalls strafbar sind. Fallen vornehmlich Muslime durch Judenhass auf, folgt darauf einiges an Verständnis – immerhin leiden die jungen Rabauken ja genauso unter Israel wie man selbst. Und wenn der deutsche Außenminister nach Israel reist, um dort eigenhändig den Staatschef zu düpieren, läutet der „Spiegel“ schon mal das Ende der „Sonderbehandlung Israels“ ein. Konsequent ist das allemal. Schließlich liegt laut aktuellen Studien der Anteil derer, die „gut verstehen können, dass man bei der Politik, die Israel macht, etwas gegen Juden hat“, bei 40 Prozent. Ebenso viele Befragte sind davon überzeugt, Israel führe „einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. Und wenn die Juden also die neuen Nazis sind, wirken die alten Nazis gleich viel nichtiger.

Wenn die „Israelkritik“ auf Freunde des Schlussstrichs trifft

Auch die „Israelkritik“ folgt nicht selten den Regeln des entlastenden Abwehrspiels – allerdings verschämter durch die Hintertür, wo man statt „die Juden“ lieber „Israel“ sagt. Die Selbstfindungs-Gurus von der AfD nehmen stattdessen flott den Haupteingang. Der Weg, der von Täter-Opfer-Umkehr, Selbstmitleid, Ressentiments und Paranoia gesäumt wird, bleibt dabei derselbe. Die einen instrumentalisieren den Holocaust gegen Israel, die anderen betrachten ihn ohnehin als abgehakt. Die einen stören sich mindestens an den toten Juden, die anderen an den lebenden in Israel. In stiller Einigkeit teilen sie sich die Gewissheit, sie selbst seien besser dran, wenn der „ewige Jude“ nicht kraft seiner schieren Existenz ständig die eigene, doch eigentlich so weiße Weste besudeln würde. Auschwitz nehmen sie den Juden gleichermaßen übel. Und selbstverständlich würden sie niemals jemandem ein Haar krümmen – sie wehren sich lediglich gegen das, was sinistere Mächte ihnen antun. Man wird ja wohl noch ein wenig Notwehr betreiben dürfen.

Womöglich ergänzen sich der moderne „Israelkritiker“ und der Schlussstrich-Befürworter sogar besser, als sie es selbst für möglich halten. Natürlich: Die einen sind in der offiziellen Mitte angekommen, die anderen wären es gerne. Das unterscheidet sie. Gleichzeitig hat die „Nicht mehr hören wollen“-Fraktion in der AfD ein dankbares Sprachrohr gefunden, das zudem zum Nachahmen ermutigt. Umso mehr in Zeiten, da die letzten Überlebenden das Zeitliche segnen und der Schlussstrich dadurch gleich viel lockerer über die Lippen geht. Denn natürlich haben die Deutschen aus ihrer Vergangenheit gelernt – vor allem jedoch, wie man sie bewältigt, ohne dabei in den Spiegel blicken zu müssen.

Zuerst bei den "Salonkolumnisten" erschienen.

FDP-Wahlplakat 1949 (gemeinfrei)
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Die Leiden der alten Tante SPD

Mit einem Lied auf den Lippen und überwältigenden 56% Basis-Zustimmung im Rücken macht sich die SPD nun also auf in Richtung GroKo-Verhandlung. Damit erspart sich die deutsche Sozialdemokratie vorerst immerhin die Blöße, mit dem Slogan „Für eine starke Opposition!“ in einen Neuwahlkampf ziehen zu müssen. Und vermutlich ist das angesichts all der weiteren Peinlichkeiten, die das Unternehmen Schulz so nach sich gezogen hat, schon ein ordentliches Ergebnis. Überhaupt gleicht die SPD dieser Tage eher einer Baustelle, deren Mitarbeiter sich nicht einigen können, ob sie das Ganze einfach abreißen und neu aufbauen sollen, oder aber, ob sich der ein oder andere Part noch renovieren lässt. Sie agiert mit dem Habitus einer Volkspartei und den Umfragewerten einer Klientelpartei. Anspruch und Wirklichkeit haben ungefähr so viel miteinander zu tun wie Andrea Nahles und Audrey Hepburn. Zu gerne würden die Sozis wie eine einflussreiche Volkspartei (mit)regieren. Nur fehlen ihr seit geraumer Zeit die realen Machtoptionen, die Slogans wie „Gottkanzler Schulz“ oder „Ich will Bundeskanzler von Deutschland werden“ nicht wie Satire wirken lassen würden. Rot-Rot-Grün ist tot, Rot-Grün mausetot. Und letzteres nicht nur zahlenmäßig, sondern auch inhaltlich. Wer wissen will, was Rote und Grüne unter anderem trennt, muss nur die außenpolitischen Ansichten von Cem Özdemir mit denen von Sigmar Gabriel vergleichen. Kein Wunder, dass die Grünen sich da teilweise bei Angela Merkel wohler fühlen. Die kann immerhin auch Energiewende.

Ähnlich miserabel sieht es bei den Wählern aus, bei der Kernklientel insbesondere. Böse Zungen behaupten, dass der klassische Arbeiter im Ruhrpott eher weniger mit Familiennachzug und „Nein“ zur Obergrenze anfangen kann. Aufreizende Werbung sieht er lieber in seinem Spint statt, wie Heiko Maas in jüngster Vergangenheit vorschlug, auf dem Index. Überhaupt wird er sich in den Armen Guido Reils (AfD), dessen Partei gerade schwer auf Gewerkschafter-Tour ist, vielleicht irgendwann wohler fühlen als in denen von Manuela Schwesig, die ihm nur eine Frauenquote bietet. Auch die SPD hat es eindrucksvoll verschlafen, auf die Fragenstellungen, die die AfD okkupiert, mit besseren Lösungen zu reagieren.

Das alles hält die SPD aber freilich nicht davon ab, weiterhin dieselben Spitzen ins Rennen zu schicken, die den Dampfer vorher schon versenkt haben. Egal, wie wenig man mit der Sozialdemokratie am Hut hat: Es gibt ehrenwerte Gegner einerseits, Gegner, die zum Fremdschämen einladen, andererseits. Man muss Mindestlohn und Bürgerversicherung nicht gut finden, um trotzdem einen gewissen Respekt vor dem Andersdenkenden, etwa vor Sozialdemokraten wie Olaf Scholz zu haben. Bei Andrea „Bätschi, Fresse, bis es quietscht!“ Nahles, Stimmungskanone Ralf Stegner und Martin Schulz, der sich von einem Mahmoud Abbas die Brunnenvergifter-Lüge verkaufen lässt und nebenan auf Twitter die transatlantische Partnerschaft mitdemoliert, fällt das allerdings zunehmend schwer. Die „stolzen Sozialdemokraten“, von denen so oft die Rede ist, müssen sich irgendwo anders versteckt haben.


Die Operation Kühnert offenbart derweil einen Generationenkonflikt zwischen Sozis, die heute ein Amt haben wollen, und Sozis, die auch in drei bis vier Jahren noch eine Chance haben möchten. Wie genau diese Chancen aussehen, steht auf einem anderen Blatt. Dass die SPD nun wieder in Verhandlungen um die gar nicht mal allzu große Koalition eintritt, ändert daran jedenfalls wenig. Die Abrissbirne bleibt trotzdem auf der Tagesordnung. Andernorts sind linke Parteien dahingehend schon weiter, und das in einigermaßen gruseliger Weise. In den USA fand der "demokratische Sozialismus" nach Art von Bernie Sanders durchaus großen Anklang, in Großbritannien ist mit Jeremy Corbyn ein wahr gewordener Albtraum am Start und auch in Frankreich ließen die Wähler den Linksaußen-Kandidaten keineswegs im Regen stehen. Mittel- bis langfristig ist nicht bloß interessant, wo die SPD heute steht, sondern auch, wo sie in fünf Jahren ihre Runden drehen wird - und vor allem, wer die Lücken füllen wird, die sich bis dahin zwangsläufig auftun werden.
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Teheran – Europa: Kein Anschluss unter dieser Nummer

Während die Proteste im Iran immer blutiger werden, übt sich Europa in besonnener Zurückhaltung. Auf dem Spiel steht vieles: der Atom-Deal, der Status-Quo in Despotistan, die eigene Glaubwürdigkeit. Demonstranten, die für originär europäische Werte sterben, können daher nicht mit Rückendeckung rechnen.    

Charles de Gaulle hat einmal gesagt, Staaten haben keine Freunde, sondern Interessen. Das stimmt zwar nicht völlig – immerhin pflegen genügend Länder Freundschaften auf Basis gemeinsamer Werte, die gleichzeitig auch ihren Interessen dienen – aber es ist immerhin eine konsistente Aussage. Sigmar Gabriel hingegen hält es anders. Als Chef des Außenamts pflegt er ganz ausgiebig diverse  Freundschaften, etwa zum Palästinenser-Führer Mahmoud Abbas, womöglich auch zu Wladimir Putin, mit dem er gerne mal privat zu Abend isst. Gleichzeitig empfiehlt er sich und den Europäern aber ebenso, sich ihrer „Interessen zu besinnen“ und „Macht zu projizieren“ – so Anfang Dezember auf dem Außenpolitikforum der Körber-Stiftung geschehen. Welche Interessen genau das sein sollen, wollte Gabriel dabei jedoch nicht verraten. Eine „wertorientierte Außenpolitik“ werde bei deren Durchsetzung jedenfalls nicht reichen. Stattdessen sei ein „klarer Blick auf die Welt ohne moralische Scheuklappen“ vonnöten.

Spätestens an dieser Stelle hätte man gerne erfahren, wann genau „moralische Scheuklappen“ denn zuletzt die Aussicht vom Auswärtigen Amt auf die Welt blockiert hätten. Als Sigmar Gabriel den amerikanischen Präsidenten davor warnte, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen und damit der deutsch-israelischen Partnerschaft erneut einen ganz besonderen Dienst erwies? Als er für eine frühzeitige Lockerung der Russland-Sanktionen plädierte? Oder doch eher im vergangenen Sommer, da er zu einer Konferenz zum Thema „Friedensverantwortung der Religionen“ den Veranstalter der antisemitischen Al-Quds-Märsche in Berlin einlud?

Auch das Mullah-Regime in Teheran kann sich angesichts der landesweit um sich greifenden Proteste derzeit nicht über zu groß geratene Scheuklappen made in Germany beschweren. Während Tag für Tag zehntausende Iraner ein Ende des theokratischen Regimes fordern und dabei vermehrt auf zu allem bereite Revolutionsgardisten treffen, ließ es das Auswärtige Amt eher entspannt angehen. Erst am vierten Tag kamen die zuständigen Diplomaten auf die Idee, der Regierung in Teheran sicherheitshalber zu empfehlen, „die Rechte der Protestierenden zu achten und besonnen zu handeln“.

Europa: mit „klarem Blick“ und ohne „moralische Scheuklappen“

Nun gehen die Protestierenden ja vor allem deshalb auf die Straße, weil das Regime sich auch sonst nicht um deren Rechte schert. Aber das muss niemanden in Berlin irritieren. Genauso wenig wie die ersten Toten und hunderte von Verhaftungen. Es sind vor allem amerikanische Politiker, angefangen beim Präsidenten selbst über Republikaner wie Paul Ryan bis hin zu Demokraten wie Adam Schiff, die den Menschen auf iranischen Straßen den Rücken stärken. Europäische Diplomaten üben sich derweil in besonnener Zurückhaltung und behalten im Gabriel’schen Sinne den „klaren Blick“.

Immerhin ist der fürsorglich eingetütete Iran-Deal gerade mal zwei Jahre jung. Der damals amtierende Außenminister Frank-Walter Steinmeier erblickte darin einen „historischen Erfolg der Diplomatie“. Da wäre es schade, wenn das junge Glück nach so kurzer Zeit schon wieder dahin wäre, nur weil ein paar wütende Iraner dazwischen funken und ein Leben ohne Tyrannei fordern. Auch die Mullahs sehen das ähnlich, erlaubt ihnen das Atomabkommen doch, die nuklearen Ziele weiterzuverfolgen und dabei mit westlichen Milliarden die Vorherrschaft in der Region zu zementieren. Ob im Gazastreifen, im Jemen, im Libanon oder in Syrien, dort vor allem in direkter Nachbarschaft zu Israel, das von den Mullahs regelmäßig mit Vernichtungsdrohungen bedacht wird  – den Nahen Osten zu besuchen, ohne dabei über den Iran und seine Handlanger zu stolpern, erweist sich zunehmend als Herausforderung. Und schon zuvor – genauer: seit 1979 – zeigte der islamische Gottesstaat viel Engagement in puncto „Revolutionsexport“, der sich sowohl in weltweiten Terroranschlägen als auch in einer Stärkung des fundamentalistischen Islam manifestierte. Böse Zungen erkennen gar im Iran keinesfalls die Lösung, sondern die Ursache etlicher Probleme. Aber auf böse Zungen wollen die europäischen Ohren lieber nicht hören.

Friedhofsfrieden first

Stattdessen konzentrieren sie sich auf ihre Interessen, die vor allem in der Beibehaltung des Status quo bestehen. Natürlich gilt ihnen das Atomabkommen als unentbehrlich, denn zum einen ist es milliardenschwer, zum anderen ist es hübsch am eigenen diplomatischen Revers anzusehen. Vor allem aber kennt der Nahe Osten aus europäischer Sicht ohnehin nur zwei Aggregatzustände, die zu verändern der hiesigen Bequemlichkeit nicht zuträglich wäre. Mal erscheint er als „Pulverfass“, vor allem dann, wenn Israel Siedlungen baut oder der Ami einmarschiert und Terrorregime entfernt. Und von Pulverfässern sollte man sich bekanntlich fernhalten. Mal gestaltet er sich aber auch als festzementierte Landschaft, für die einzig eine Herrschaft der Despotie vorgesehen sei. Auch an solchen „Naturgesetzen“ sollte man als Europäer nicht rütteln. Die vielgerühmte „Stabilität“ geht vor. Lieber pflegt man innige Freundschaften zu den dortigen Staatschefs. Das lohnt sich vor allem deshalb, weil der durchschnittliche Nahost-Despot nicht abgewählt werden kann und somit als Freund und Partner praktischerweise besonders lange erhalten bleibt.

Ein Umsturz im Iran wäre dagegen eine äußerst ungemütliche Angelegenheit. Kein Mensch weiß, was danach kommt. Niemand hat eine Idee, was dann zu tun wäre. Die liebgewonnenen Autokraten würden nicht mehr ans Telefon gehen, stattdessen müsste man sich mit neuen Führungsfiguren arrangieren. Export-orientierte Unternehmen wären sauer und stünden ebenso in europäischen Außenämtern auf der Matte wie unzählige Vertreter aus der arabischen Nachbarschaft, deren Karten nun ebenfalls neu gemischt würden. Nicht zuletzt bekäme auch das eigene Image einige Kratzer ab. Ein neuer Post-Mullah-Iran wäre ein Ort, an dem auch die Verbrechen der Mullahs schonungslos offengelegt würden. Zu erklären, warum man sich mit eben jenen Mullahs jahrelang gemein machte, wäre keine sonderlich angenehme Aufgabe.

Aus Schaden wird man klug. Nur in Europa nicht

Kurzum, ein Ende des Status Quo wäre lästig und daher nichts für eine Politikergeneration, die es sich in puncto Nahost auf der Zuschauertribüne gemütlich gemacht hat. Die sich dabei nicht von humanitären Krisen oder nuklearen Ambitionen stören lässt und erst dann aus der Fassung gerät, wenn das eigene Interesse an „Stabilität“ berührt wird. Denn dann müsste man womöglich selbst etwas tun, und das überlässt man gemeinhin doch lieber den anderen (zumeist den Amerikanern). Die Europäer trifft man nie dort, wo es zählt, dafür aber immer dann, wenn es „Appelle an beide Seiten“ zu verteilen gilt und auf Leichenbergen an „Wiederaufbau“ gedacht werden kann. Revolution und Wandel klingen ausschließlich in Geschichtsbüchern gut, in der eigenen Amtszeit möchte man sie lieber nicht erleben.

Das gilt auch dann, wenn sich der nahöstliche Frieden als Friedhofsfrieden erweist und die Probleme Arabiens plötzlich vor der eigenen Tür stehen. Die Flüchtlingskrise ist das Resultat eines skrupellosen Zusammenspiels von „Stabilitätsgaranten“ wie Assad, Putin und Rohani, die sich von westlichen Idealen und völkerrechtlichen Prinzipien eher selten irritieren lassen. Sie ist aber auch das Resultat westlicher Abstinenz. Die Untätigkeit, die sowohl von Europa als auch von Amerika ausging, kostete in Syrien nicht nur hunderttausende Menschenleben, sondern erzeugte auch eine europäische Krise, auf die niemand eine gute Antwort findet. Während die Amerikaner schon länger begriffen haben, dass den eigenen Interessen – von Sicherheit bis Wohlstand – am besten gedient ist, wenn die Zahl freier, demokratischer Staaten wächst und die der unfreien Regime sinkt, klammern sich die Europäer beharrlich an das brüchige Stabilität-durch-Despotie-Modell und geben der Autokratie stets gern den Vorzug. Dass ein Ende der khomeinistischen Diktatur ein Segen wie auch eine Chance auf tatsächlichen Frieden wäre, hält der europäische Diplomat folglich für einen schlechten Scherz.

Zwischen Verrat, Gedächtnisverlust und Bequemlichkeit

Indes nehmen die Proteste im Iran ihren Lauf. Wo sie enden, ist nicht abzusehen. Wie blutig sie werden können, hingegen schon. Für Anfänger bietet sich ein Blick auf die Proteste im Jahr 2009 an, denen das Regime mit brutaler Gewalt ein Ende setzte. Unzählige Oppositionelle landeten in den vielen Folterknästen des Landes, wo sie nun auf die Demonstranten von heute treffen. Manche von ihnen werden möglicherweise immer noch darauf hoffen, dass der Westen ihnen diesmal den Rücken stärkt, nachdem er sie 2009 im Stich ließ; dass er genug Druck auf die Regierung ausübt und sie damit vor ungehemmter staatlicher Gewalt schützt. Immerhin, so könnte man annehmen, existiert zwischen Europäern und protestierenden Iranern ja eine Gemeinsamkeit: Die einen leben und regieren in Staaten, deren Fundament das Bekenntnis zur individuellen Freiheit ist. Die anderen gehen für dieselbe Freiheit auf die Straße und riskieren für sie ihr Leben. Theoretisch sollte also auch Europa an ihrer Seite stehen, mindestens Sympathien für sie hegen. Praktisch hingegen scheint den Europäern entfallen zu sein, auf welcher Idee ihre Staatswesen fußen und welche Ideale sie erfolgreich machten. Daheim trommeln sie für die „Ehe für alle“ und Datenschutz, in die Ferne nach Despotistan liefern sie indes Rückendeckung und Equipment, das die Unterdrückung des Einzelnen noch effektiver macht. Und wenn sie dann noch Zeit haben, suchen sie die Schuld für nahöstliches Elend zuverlässig bei den Amerikanern.

Sigmar Gabriel lässt sich derweil nicht aus dem Konzept bringen, erst recht nicht von „moralischen Scheuklappen“. Er sei angesichts der jüngsten Entwicklungen zum einen „sehr besorgt“, so die jüngste Stellungnahme am Montag. Zum anderen hält er es „nach den Konfrontation der vergangenen Tage [für] umso wichtiger, allseits von gewaltsamen Handlungen Abstand zu nehmen“. Eine weise Einschätzung, für die vor allem die Menschen auf iranischen Straßen dankbar sein werden. Das Regime möge also entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten die „Rechte der Demonstranten respektieren“ – aber auch die Demonstranten selbst sollten es mit dem Abreißen von Rohani-Plakaten lieber nicht übertreiben und sich ansonsten besonnen zeigen, wenn bewaffnete Paramilitärs auf sie losgehen. Sobald es um Mediation zwischen „beiden Seiten“ geht, ist auf den deutschen Außenminister eben Verlass. Einer muss ja schließlich den „klaren Blick auf die Welt“ bewahren.

Zuerst bei den Salonkolumnisten erschienen.

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