Im Grunde habe ich ein Herz für Leserbriefschreiber und artverwandte
Wesen. Für die einen, die es bei Komplimenten, Heiratsanträgen und knappem
Feedback belassen, mehr. Für die
anderen, die mit geistiger Diarrhoe auf sich aufmerksam machen, weniger. Obwohl
es, zugegeben, ohne solche Geisterfahrer auch langweilig wäre. Und dann gibt es
natürlich noch Exemplare, die sich streng genommen keiner der beiden Kategorien
zuordnen lassen. Das sind die, die keinen Friseur haben. Einsame Seelen,
unterbeschäftigte Rentner, Männer mit stark ausgeprägter Midlifecrisis und „entrechtete“
Väter beispielsweise. Ihren Tätigkeitsschwerpunkt haben sie längst in die
Postfächer fremder Leute verlagert, wo sie selbstverständlich kostenlose und unkomplizierte
Gesprächstherapie erwarten. Oder eher massiv einfordern. Denn sobald der
Leserbriefschreiber eine höfliche Standard-Antwort empfangen hat, kommt er erst
richtig in Fahrt.
Insofern lässt der professionelle Leserbriefschreiber auch
dann nicht locker, wenn er überraschenderweise keine Antwort bekommt. Ganz im
Gegenteil, erst die Ignoranz, so scheint es, motiviert ihn zu weiteren
Heldentaten. Denn schließlich ist der Leserbriefschreiber an sich ein wackeres
Wesen, das sich so schnell nicht in die Flucht schlagen lässt. Sätze wie „Warum
antwortest du denn nicht???“ oder „Schade, hast wohl viel zu tun … :((((“, bevorzugt in
fünffacher Ausführung und mit dem Pathos einer beleidigten Leberwurst, gehören
zu seinem Standardrepertoire. Schließlich ist es ja ein verbrieftes
Menschenrecht, von fremden Leuten umgehend und in epischem Ausmaß bespaßt zu
werden!
Kein Wunder also, dass der Leserbriefschreiber noch einen
Plan B zur Hand hat. Jetzt erst recht! Wenn der neue Therapeut der Träume nicht
antwortet, kann das ja sicher nicht an ihm liegen. Bestimmt hat der Adressat
den neuen Roman und das oben erwähnte Bettelmail-Bombardement einfach noch
nicht gesehen. Also muss der Leserbriefschreiber ein bisschen nachhelfen. Nun
bekommt nicht etwa das Zielobjekt, sondern deren Freundeskreis Post: „Erinnerst du bitte deine Freundin daran, mal
in ihre Emails zu sehen? Sie schuldet mir noch eine Antwort.“ Anschließend
fühlt er sich richtig gut, starrt erneut auf seinen Posteingang und erwartet
Unterhaltung.
Sollte diese unerwarteterweise nicht eintreten, muss der
Leserbriefschreiber zu härteren Bandagen greifen. Warum immer Emails schreiben,
wenn es noch Facebook oder Twitter gibt? In dem Bewusstsein, ein unglaublich
origineller Zeitgenossse zu sein, richtet er sich flugs einen Twitter-Account
ein, um dann dort sein Opfer mit einem Wortschwall zu überraschen. Es freut
sich ganz gewiss darüber!
Doch auch im Leben eines Leserbriefschreibers gibt es
Tiefpunkte. Der Hamster ist gestorben, das Leben gescheitert, die Ehe
zerbrochen - kommt alles mal vor. Jedoch: Halb so schlimm, wenn man seine
Sorgen teilen kann – denkt es im Hobby-Schreiberling, denn der ellenlange
Klagemonolog liegt schon längst im Postfach seines Opfers. Ob es sich für seine
Sorgen wohl interessiert? Ach, die Frage stellt sich doch gar nicht! Schließlich hat sich die Zielperson
schon mal für einen themenbezogenen Leserbrief bedankt, da wird, nein, muss es
auch das eigene Seelenheil wiederherstellen. Der Leserbriefschreiber würde sich
zwar nie trauen, fremde Leute im Bus oder an der Bar mit seinen Problemen zu
belästigen. Doch seit der Erfindung des Internets wähnt er sich im Schlaraffenland. Warum
auch eigens dafür qualifiziertes Personal aufsuchen, wenn man den Traum-Psychiater
einfach im Netz heimsuchen und beanspruchen kann?
Gleiches gilt für das Fortpflanzungsverhalten postpubertärer
Online-Ritter, die beim Blick in den Spiegel (kommt vor, wenn sie nicht gerade Emails
schreiben) offenbar den jungen Alain Delon ausmachen und ein ebenso geartetes
Selbstbewusstsein an den Tag legen. Elitepartner und ähnliche Späße sind dem
Leserbriefschreiber und seinen Kollegen schon längst „zu mainstream“. Er sucht sein Glück lieber bei Angehörigen der
schreibenden Zunft und hält eine bestätigte FB-Freundschaftsanfrage dem Ja-Wort
am Traualtar für ebenbürtig. Seine überaus geistreichen sowie zärtlichen
Botschaften („Hey, ich könnte zwar dein Vater sein, aber ich hoffe, du
antwortest mir trotzdem, ich finde dich nämlich echt sympathisch und deine
Texte super.“) gehen über in skurrile Fantasien („Ich stelle mir dich gerade in
schwarzen Lackstiefeln vor …“) und münden in der Regel in Eifersuchtsszenarien („Warum
unterhältst du dich mit XY auf deiner FB-Seite, statt mir zu antworten? Ist das
etwa dein Freund??). Begleitet wird all das
von Gedichten, Avancen und „Guten Morgen, meine Prinzessin! / Gute Nacht, meine Königin!“ – Nachrichten. Der durchschlagende
Erfolg im Herz der Adressatin muss sich gar nicht mehr einstellen; den hält der
Leserbriefschreiber ohnehin für selbstverständlich.
Ein geübter Leserbriefschreiber geht allerdings nicht nur in
der Rolle des Liebhabers, sondern auch in der Aufgabe des selbsternannten
Mentors auf. In Ermangelung von Kindern oder Enkeln fühlt er sich nun dazu
berufen, das Leben fremder und meist junger Personen gebührend
umzustrukturieren. Natürlich ungefragt, denn da der Leserbriefschreiber älter
ist, weiß er ohnehin, was für junge Dinger gut ist. Und wehe, der Protegé wagt es, seine Handlungsanweisungen zu ignorieren. Dann nämlich
folgen Vorwürfe („Ich hab dir doch gesagt, das so und zu machen. Das kannst du
jetzt aber echt nicht bringen!“), da der anonyme Kümmeronkel fremde Existenzen
schließlich schon längst zu seinem Eigentum erklärt hat. Und da Eigentum
verpflichtet, fordert er auch in regelmäßigen Abständen diverse Auskünfte an: „Und,
was hast du heute so gemacht? Was gab’s zum Abendessen? Wo warst du denn am
Wochenende unterwegs, und mit wem? Was willst du so in Zukunft machen? Schade,
warum schreibst du nicht mal mehr über dich?“
Offenbar hat der Leserbriefschreiber vor allem eines: viel
Zeit. Genug Zeit jedenfalls, um ein unbescholtenes Postfach zu einem
Gesamtkunstwerk aus Irrsinn, Scham- und Respektlosigkeit umzufunktionieren. Dafür
kann man ein Herz haben. Muss man aber nicht.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen