Es gibt durchaus ein paar Disziplinen, die wir Deutsche wie kein
anderes Volk beherrschen. Sicher, der Export lief schon mal besser, und
über Dichter oder gar Denker ließe sich ebenfalls streiten. Dafür liegen
unsere Stärken woanders: etwa im Erteilen guter Ratschläge an andere
Länder, oder gerne auch in der Umsetzung von Großprojekten, die niemand
bezahlen kann (Stichwort Energiewende). Das können wir richtig gut. Noch
besser, wenn nicht gar unschlagbar, sind wird allerdings immer dann,
wenn es darum geht, Mut zu beweisen.
Tatsächlich sind die Zeiten, da engagierte Mutbürger noch Mangelware
waren, längst vorbei. Man muss auch keineswegs eine Mädchenschule am
Hindukusch oder Oppositionelle auf Kuba besuchen, um zu erfahren, was
„Mut“ bedeutet. Es reicht schon, sich in heimischen Gefilden umzusehen.
Dort nämlich wimmelt es nur so von engagierten Mitbürgern, die keine
Gelegenheit auslassen, um ihren Mut ohne Grenzen unter Beweis zu
stellen.
Noch vor Kurzem konnte man versammelte Mutbürger etwa regelmäßig in
der Nähe von Atomkraftwerken bestaunen. Dort trafen sie sich in freier
Natur zum bunten Protest und leisteten mittels Sachbeschädigung
(umgangssprachlich: Schottern) Widerstand gegen die Atom-Lobby. Wer sich
dabei nicht von den umstehenden Deeskalations-Teams der Polizei beirren
ließ, sondern tapfer weiter an den Gleisen herumhantierte, galt als
besonders couragiert. Ein Akt der Zivilcourage, vor allem in einem Land,
in dem lediglich politische Randfiguren wie die Grünen das Ende der
Atomkraft fordern und Polizisten zu Anti-Konflikt-Teams befördert
werden.
Ähnlich mutig geht es in 1000-Seelen-Dörfern zu, die kollektiv und
von Polizeibeamten umringt gegen fünf Neonazis anmarschieren. Auch hier
erweist sich jeder einzelne Demonstrant quasi als Reinkarnation Sophie
Scholls. Das örtliche Bürgerbündnis kommt vor lauter Mut gar nicht mehr
aus dem Schwärmen heraus. Zu Recht! Denn schließlich kann man nie
wissen, ob die versprengten NPD-Sympathisanten
nicht doch ein Ermächtigungsgesetz im Gepäck haben, das Rathaus in
Brand setzen oder aufrechte Demonstranten ins Verließ sperren.
Doch Mut ist natürlich keineswegs nur die Domäne des kleinen Mannes.
Tapferkeit und Courage erfassen vielmehr ganze Branchen, insbesondere
jedoch die schreibende Zunft. Israelkritiker wie Jakob Augstein und
Günter Grass gelten beispielsweise als besonders mutig, weil sie das
aussprechen, was außer ihnen lediglich nahezu alle Tageszeitungen,
Politiker der Linkspartei und zig hauptberufliche Friedensaktivisten
propagieren.
Das wiederum eint sie mit den Kapitalismuskritikern, die allgemein
als ungeheuer tapfer anerkannt sind. Vermutlich, weil es sich noch nicht
bis zur kritischen Elite herumgesprochen hat, dass das Grundgesetz
Meinungsfreiheit garantiert. Ähnlich ergeht es rasenden Reportern, die
Kinderarbeit in Bangladesch inspizieren und damit nicht einfach nur
ihren Job machen, sondern gleichzeitig Mut beweisen. Und wer heutzutage
als kleiner Verleger dem Online-Händler Amazon den Laufpass gibt, erweist sich dadurch glatt als Bundesverdienstkreuz-verdächtig.
Sie alle kommen vor lauter Courage leider nie dazu, ihrem Umfeld zu
erklären, was genau sie mit ihrem Wirken eigentlich aufs Spiel setzen.
Das macht aber im Grunde nichts. Denn Mut gehört zu den Tugenden, die
man aufgrund des integrierten Wohlfühlfaktors tunlichst nicht
hinterfragen sollte. Schließlich holen „wir Deutsche“ möglicherweise
gerade das nach, was wir vor ein paar Jahrzehnten verpasst haben. Wenn
es schon kein NS-Regime mehr gibt, dann muss eben die Atom-Lobby
herhalten, um sich eigenhändig Tapferkeit zu attestieren. Mut bleibt
Mut, oder so ähnlich.
Und letztlich ist es zweifelsohne beruhigend, in einer Gesellschaft
voller Mutbürger zu leben. Sollte in naher oder ferner Zukunft doch mal
ein „worst case“ eintreten, hätte man schließlich nichts zu befürchten.
Tausende engagierter Mitmenschen würden wieder mal ihren Mut beweisen
und jeden Diktator in die Flucht schlagen – komme, was wolle. Zumindest
solange nicht gerade die nächste Friedensdemo im Terminkalender steht.
Ein Mutbürger muss schließlich auch Prioritäten setzen.
Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.