Es gibt Geschichten, die uns immer wieder begeistern.
Enthüllungsberichte über Machenschaften von Politikern in dunklen
Hinterzimmern, oder ebenso über Konzerne, die den kleinen Mann
ordentlich ausbeuten und den Profit einstreichen. Also Konzerne wie
Amazon. Der nämlich malträtiert seine Mitarbeiter, beutet sie aus, lässt
sie von Neonazis bespitzeln und aus fernen Ländern wie Ware
importieren. Das zumindest wollen knallharte und tapfere Reporter des HR
unter Einsatz ihrer eigenen Sicherheit enthüllt haben, wobei das
Gesamtkunstwerk unter dem Titel „Ausgeliefert!“ neulich in der ARD zu bestaunen war.
Ziemlich mies also, dieses Amazon. Gesammelte Wutbürger löschen
deshalb dieser Tage reihenweise ihre Amazon-Konten, unterschreiben
Petitionen und proben im Netz mutig den Widerstand gegen „Arbeitslager“
und „Sklavenarbeit“ innerhalb des US-Unternehmens. Fortgeschrittene
hingegen, die es nicht beim Boykott belassen wollen, können mittlerweile auch bei „Zeit Online“ die „Zerschlagung“ des Unternehmens eruieren.
Gerne wüsste man, ob all diese aufgebrachten Mitmenschlein eigentlich auch deutsche Spargelbauern, KIK-Filialen
und Smartphones der Marke Apple boykottieren. Oder ist Ausbeutung nur
dann relevant, wenn sie vor der Haustür und von einem US-Konzern
betrieben wird? Und überhaupt – was genau Ausbeutung ist, unterliegt nun
offenbar der Definitionshoheit des HR. Natürlich: In Ordnung ist es
nicht, wenn die von Amazon engagierte und mittlerweile gekündigte Zeitarbeitsfirma
mit einem Brutto-Stundenlohn von 9,68 Euro lockt, hinterher jedoch nur
8,52 Euro zahlt, obwohl die Amazon-Tariftabellen für ungelernte Kräfte
grundsätzlich 9,30 Euro garantieren.
Nachdem aber die gezahlten Löhne an sich keineswegs den Branchendurchschnitt unterschreiten,
kann nur darüber orakelt werden, wo genau sich der Ausbeutungsskandal
eigentlich versteckt haben könnte. Es sei denn, die engagierten
HR-Reporter und Anti-Amazonisten setzen für ungelernte
Logistik-Mitarbeiter Chefarzt- und Rundfunk-Intendanten-Gehälter voraus.
Dann wiederum ließe es sich durchaus trefflich über Ausbeutung empören.
Allerdings hat der Online-Händler ja noch wesentlich mehr verbrochen.
Ein weiterer und zugleich beliebter Vorwurf lautet etwa so: Amazon
karrt eigens für die Weihnachtszeit Arbeitskräfte aus ganz Europa
herbei. Was in der Tat sehr schrecklich klingt, solange man davon
ausgeht, dass es sich bei den genannten Mitarbeitern um unmündige Wesen
handelt, die ungefragt „ausgeliefert“ werden.
Tatsächlich ist es all den Spaniern, Rumänen und Bulgaren immer noch
selbst überlassen, ob sie für Amazon arbeiten möchten oder lieber in
ihrer Heimat verarmen. Und dass Amazon etwa für die Wirtschaftskrise in
Spanien verantwortlich sein könnte, die Leiharbeiter freiwillig nach
Deutschland treibt, konnte bislang nicht mal der HR beweisen.
Dennoch stellt sich freilich die Frage, wie Amazon das
Weihnachtsgeschäft künftig bewältigen soll, ohne dabei edle Wutbürger in
Rage zu versetzen. Deutsche Mitarbeiter, die für 9,30 Euro pro Stunde
Bücher verpacken, gibt es offenbar kaum. Die Bulgaren und Spanier
hingegen sollen das erst recht nicht tun. Insofern bliebe nur, völlig
auf Saisonkräfte zu verzichten. Denn wer hat eigentlich behauptet, dass Weihnachtsgeschenke bis zum 24. Dezember eintreffen sollen? Es reicht auch, wenn sie erst an Ostern kommen.
Insbesondere, nachdem sich nun herumgesprochen hat, dass
Arbeitskräfte eines Amazon-Werks zusätzlich von dubiosen
Security-Männern in Thor-Steinar-Pullis überwacht wurden. Was
tatsächlich zu verurteilen ist und umgehend zur Auflösung des Vertrags
mit dem Unternehmen führte. Dass allerdings nicht etwa Amazon selbst,
sondern die genannte Zeitarbeitsfirma das Security-Unternehmen
engagierte, wird im Rahmen der Doku nicht erwähnt. Genauso wenig
offenbart sich, dass Security an sich offenbar benötigt wurde, um
sporadische Auseinandersetzungen unter Leiharbeitern zu vermeiden.
Der HR-Zuschauer weiß nur eins: Finstere Figuren durchstöbern
eigenmächtig fremde Zimmer (was nicht wahr ist) und dienen prinzipiell
nicht der Sicherheit, sondern der Einschüchterung (ebenfalls falsch).
Komisch ist ebenfalls, dass sich die im Film gezeigte Leiharbeiterin
aus Spanien gar nicht so ausgebeutet fühlte, wie die HR-Reporter es wohl
gerne gehabt hätten. „Die Reporter hätten aber offenbar nur das
Negative sehen wollen und in dem Bericht dann ihre Sätze aus dem
Zusammenhang gerissen“, verriet sie nun dem „Kreisanzeiger“.
Und auch die Unterbringung im Hotel, die – nota bene – eine
obligatorische Serviceleistung Amazons darstellt (oder seit wann darf
Amazon verfügen, wo Mitarbeiter zu wohnen haben?), sei ebenso wenig
traumatisierend gewesen. Aber vielleicht verkraftet manch einer das „kostenlose Festessen mit Gänsekeulen und Klößen“, von dem weitere Amazon-Mitarbeiter berichten, wirklich nicht.
Spannend wäre auch gewesen, die Meinung Amazons zu hören. Doch der
Konzern antwortete natürlich nicht auf Fragen. So zumindest tönt es aus
dem Off, während gleichzeitig eine E-Mail der Amazon-Pressestelle
eingeblendet wird, in der diese sich für schriftliche und telefonische
Auskünfte bereit erklärt (zu sehen ab Minute 25,21).
Aber vermutlich waren die HR-Reporter einfach zu sehr damit
beschäftigt, Busfahrer zu finden, die brav das Wörtchen „Sklavenarbeit“
ins Mikro rufen. Da hat die Presseabteilung eben Pech gehabt. Und warum
sollte man eine Geschichte noch kaputter recherchieren, als sie ohnehin
schon ist?
Was letztlich an gerechtfertigten Vorwürfen übrig bleibt, passt im
Grunde auf einen Bierdeckel. Oder eben auch in eine „investigative“
Doku, die solange Fakt und Fiktion durcheinander wirft, bis Amazon noch
anrüchiger als Banken und AKWs zusammen erscheint. Klar ist, dass
glatzköpfige Security-Leute und falsche Lohnversprechungen nicht in
Ordnung gehen und Amazon am Ende des Tages die Verantwortung trägt.
Ebenso offensichtlich ist aber auch, dass genau solche Missstände
vielmehr symptomatisch für Zeitarbeitsfirmen wie die genannte sind –
nicht jedoch für das Unternehmen Amazon an sich.
Das nämlich dient ganz offensichtlich nur als Sündenbock, dem der
deutsche Wutbürger auch dann nicht verzeiht, wenn es die Konsequenzen
daraus zieht. Logisch. Denn Leiharbeiter und Fakten sind natürlich bei
Weitem nicht so aufregend wie die einmalige Gelegenheit, mit Leib und
Seele dem eigenen Ressentiment gegenüber großen US-Unternehmen zu
frönen. Zumindest bis zur nächsten Weihnachtsorder.
Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.
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