Warum tötest du, Kim?

Auch ein Dasein als Diktator hat so seine Schattenseiten. Wer sich als Despot beispielsweise dauerhaft ein Plätzchen in den Schlagzeilen sichern möchte, muss dazu schon mehr als die schlichte Drangsalierung des eigenen Volks bieten. „Schillernd“ wie einst Gaddafi müsste man sein, oder wenigstens Vernichtungsfantasien à la Ahmadinedschad im Gepäck haben. Dagegen sieht der nordkoreanische Machthaber Kim Jong Un blass aus. Nachdem er außer einer grausamen Diktatur nichts aufzuweisen hat, muss er also hin und wieder einen Atomkrieg androhen, um das mediale Interesse zu erwecken.

Dieser Tage ist es mal wieder so weit, und das Dreigespann aus Medien, Politik und Expertentum steht vor einem Rätsel. „Was will Kim Jong Un?“, fragt etwa „Spiegel Online“, ohne darauf eine zufriedenstellende Antwort zu geben. Auch sonst gestaltet sich die aktuelle Informationslage einigermaßen wechselhaft: Mal ist Kim Jong Un verrückt, mal handelt er völlig rational. Einerseits will er ja nur den Dialog auf Augenhöhe, andererseits einen handfesten Krieg, wobei er sich den ja eigentlich gar nicht leisten könne – und falls doch, so trügen natürlich auch die Amerikaner eine Mitschuld.

Was Kim Jong Un also will, muss hierzulande noch geklärt werden. Dass er daneben auch ein florierendes Gulag-System unterhält, scheint hingegen nicht so tragisch zu sein. Sicher: Atomkrieg klingt wohl relevanter als Arbeitslager. Aber ein bisschen merkwürdig mutet das hohe Desinteresse dennoch an. Schließlich befinden wir uns doch in einem Land, in dem jeder Einwohner mit präzisen Unrecht-Antennen ausgestattet ist. Wir wissen daher auch, dass der Kapitalismus „uns alle kaputt macht“, wir engagieren uns genauso gegen „Sklavenarbeit“ bei Amazon wie gegen Herrenwitze an der Bar und stellen den Widerstand auch dann nicht ein, wenn der Kampf um soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung noch so zermürbende Züge annimmt.

Natürlich ließe sich einwenden, dass Nordkorea einfach zu weit weg ist, um den Wohltäter-Reflex in uns zu wecken. Die Antennen versagen schlicht, nachdem der Ort des Unheils rund 7.940 Kilometer Luftlinie entfernt ist. Es gehe uns also nichts an, wenn am anderen Ende der Welt circa 200.000 Menschen in abgeriegelten Arbeitslagern wahlweise systematisch ausgelaugt, gefoltert oder exekutiert werden.

Daran kann es aber nicht liegen. Denn schließlich wird man hierzulande sehr wohl auch aktiv, ohne überhaupt annährend involviert zu sein. Der eine empört sich über gezielte Liquidierungen von Taliban-Kämpfern am Hindukusch, der andere über die Haftbedingungen in Guantanamo. Beides jedoch betrifft den durchschnittlichen Hobby-Menschenrechtler genauso wenig wie die Intaktheit jüdischer Geschlechtsteile, für die er sich hierzulande allerdings mit vergleichbarer Inbrunst engagiert.

Das Desinteresse an Menschen, die dank Kim Jong Un in abgeriegelten Haftanstalten vor sich hin vegetieren, weil sie etwa eine südkoreanische Zeitung gelesen haben, muss also ganz anders motiviert sein. Vermutlich haben die Nordkoreaner einfach Pech gehabt. Ihre Situation unterliegt für westlich-moralische Maßstäbe einer tendenziell ungünstigen Konstellation. Der Gulag wird weder von Amerikanern noch von raffgierigen Großkonzernen betrieben. Außerdem verfügt er über keinerlei Zweigstellen im Nahen Osten, dem Mittelpunkt deutschen Interesses. Insofern lässt er sich auch nur schwer für eine klassische Agenda nutzen. Der Kick, sich bei Kritik moralisch überlegen zu fühlen, fehlt einfach. Dumm gelaufen.

Allerdings besteht nun doch ein Fünkchen Hoffnung auf länger währende Aufmerksamkeit. Zwar nicht für die Gulag-Insassen, dafür aber für Kim Jong Un. Je näher die US-Zerstörer rücken, desto mehr steigen die Chancen auf deutsche Solidarität. „Warum tötest du, Kim?“ wäre beispielsweise eine Frage, der Jürgen Todenhöfer im Rahmen eines neuen Buchs nachgehen könnte. Genauso sollte Günter Grass sein Schweigen brechen und endlich mit dem Dichten („die Atommacht USA gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden“) beginnen. Auch im Hause Käßmann wäre es nun an der Zeit, für Kim Jong Un zu beten. Und überhaupt: Könnte es sich hier nicht doch um einen Übersetzungsfehler handeln?

All das bleibt zu eruieren und abzuwarten. Wetten darauf, wann genau die Welle der Solidarität einsetzen wird, können solange schon mal hier abgegeben werden.



Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.

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