Der europäische Patient

Dass der Nahostkonflikt auf sein globales Publikum einen größeren Reiz als andere Auseinandersetzungen ausübt, daran haben wir uns mittlerweile gewöhnt. An die unzähligen gefühlten Nahostexperten, die schon dann voll in Fahrt geraten, wenn ein Jude einem Araber in Tel Aviv den Parkplatz wegschnappt, auch. Sobald allerdings die Empörungswelle auch in die internationale Politik überschwappt, wird es etwas skurriler als sonst.

So geschehen vorige Woche, da die israelische Regierung den Bau neuer Wohnungen im Jerusalemer Vorort Ma‘aleh Adumim erwog. Von „illegalen Siedlungen in den besetzten Gebieten“ ist da die Rede – freilich ungeachtet der Tatsache, dass besagter Grund lediglich umstritten ist und 1948 Teil eines Palästinenserstaats gewesen wäre, wenn die Araber es nicht vorgezogen hätten, einen Krieg gegen das junge Israel anzuzetteln. Aber warum sollte man sich mit Fakten aufhalten, wenn der diplomatische Werkzeugkasten doch den Vorschlaghammer bietet, der dort ohnehin schon viel zu lange (da er gegenüber den Diktaturen dieser Welt nicht nötig scheint) vor sich hin staubt?

So oder so ähnlich scheint man das zumindest in den europäischen Außenministerien gesehen zu haben. Botschafter wurden einberufen, Krisensitzungen abgehalten, der Abzug von Diplomaten aus Israel erwogen, kurz: Ein gesamter Kontinent ist völlig aus dem Häuschen, weil die Juden ihrerseits Häuschen bauen. Häuschen, die laut Ban Ki Moon ein „beinahe tödlicher Schlag“ für den „Frieden mit den Palästinensern“ sein sollen.

Der Aufstand, der nun zwischen Paris und London geprobt wird, sagt allerdings nichts über Israel und viel über den defekten Moralkompass der Europäer aus. Juden bauen vielleicht Wohnungen, übrigens auch für Araber, und das wiederum in Gebieten, die im Rahmen einer Zweistaatenlösung ohnehin zu Israel gehören würden. Wohnungen, die das Westjordanland keinesfalls zweiteilten, wie ein Blick auf die Landkarte beweist. Und diese Wohnungen sollen also den Frieden ernsthaft gefährden? Mehr noch als der Terror der Hamas, die Vernichtungsfantasien diverser Fatah-Politiker und ein atomar bewaffneter Iran zusammen? Sind Häuser wirklich verachtenswerter als Raketen auf Zivilisten?

Wohl schon. Zumindest wenn es nach solchen Politikern geht, die nun völlig faktenresistent einen „Todesstoß“ für die Zweistaatenlösung herbeidelirieren, nachdem ihnen zu den regelmäßigen Angriffen auf Israel nichts eingefallen ist. Wer in Häuslebauern eine größere Bedrohung als in antidemokratischen Bombenbastlern sieht, wäre im Grunde optimal in einer Satiresendung aufgehoben. Oder eben auch in der Politik, wo der Irrsinn zur Normalität erklärt wird.

Warum die sogenannte Elite Europas sich nun ohne Faktenkenntnis an ihrer Lehrer-Lämpel-Rolle gegenüber Israel ergötzt, darüber lässt sich spekulieren. Vielleicht ist man beleidigt, weil der jüdische Staat eigene Entscheidungen trifft; vielleicht sind Siedlungen aber auch einfach nur ein dankbarer Schleier, der die eigene Unentschlossenheit, etwa in puncto Syrien oder Iran, kaschieren soll. Denn wieso es logisch sein soll, möglicherweise Botschafter aus Israel, nicht aber aus Teheran abzuziehen, fragt ohnehin niemand. Während Diktaturen noch wissen, was „Freundschaft“ heißt und sich gegenseitig unterstützen, praktizieren europäische Demokratien das exakte Gegenteil. Sie sonnen sich lieber in dem guten Gefühl, die einzige Demokratie in der Region, die sich sehr zum Leidwesen der Nachbarn nicht widerstandslos vernichten lässt, „in aller Freundschaft“ vor den Kopf zu stoßen.

Daher wäre es freilich naiv, mittelfristig auf eine Justierung des europäischen Wertekompasses zu hoffen. Erst recht in Bezug auf den jüdischen Staat, dessen Häuslebauertum im Gegensatz zu den Massenmorden in der Nachbarschaft stets hohen Blutdruck verursachen wird. Vermutlich würde der europäische Patient erst dann aus seiner Lethargie erwachen, sobald ein paar tapfere Juden mit Schaufel und Schubkarre in Aleppo einträfen.

Und so lässt sich getrost festhalten: Wenn die Welt ein Irrenhaus ist, dann ist Europa derzeit ganz offensichtlich die Zentrale. Immerhin.



Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.

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