Wie ich nun den Medien entnehme, bin ich ein Opfer. Oder nein, ich
bin es nicht nur, ich war es schon immer und werde es womöglich immer
bleiben: ein Opfer des alltäglichen und überall auflauernden Sexismus
und der Männer, die ihn praktizieren. Handküsse, Komplimente, Avancen –
alles schon erlebt, alles für unspektakulär und nicht sexistisch
gehalten. Doch nun, da sich die Dirndl-Brüderle-Affäre zu einer
Sexismus-Debatte auswächst, weiß ich es besser. Von gestern auf heute
wurde ich zum Opfer befördert und muss mich erst mal in meiner neuen
Rolle einrichten.
So erfordern nette Komplimente für das Aussehen gemäß „Spiegel“
unbedingt ein lautes „Stopp“, Alice Schwarzer rät indes vom Lächeln ab,
und zwischendurch soll, nein, muss frau auch noch laut auf Twitter
#aufschrei-en, um die Geschlechter-Revolution endlich zu vollziehen.
Ziemlich stressig also. Und wie verrückt ist es eigentlich, das ganze
Leben lang ein Opfer zu sein und genau das komplett verpennt zu haben?
Warum hat mir niemand Bescheid gesagt?
Es liegt an der Sensibilisierung, diagnostizieren geübte
Feministinnen, die dahingehend schon weiter sind. Aber ich bin ja auch
noch neu in der Opferrolle. Während mir beigebracht wurde, gute Manieren
zu schätzen, sich gegen aufdringliche Idioten zu wehren und sonst ein
gewisses Maß an Ignoranz an den Tag zu legen, spezialisierten sich circa
gleichaltrige Damen offenbar auf die Feinjustierung ihrer
Sexismus-Sensoren. Heute betreiben sie Blogs, wo sich primär alles um
sie selbst, sexual harassment, rape culture und den alltäglichen
Sexismus, der allerorts zuschlägt, dreht. Wo Handküsse quasi als
Vorspiel zur Vergewaltigung geahndet werden und eigentlich nur noch der
gelbe Stern fehlt, um die dramatische Inszenierung zu vollenden.
Nun fragt man sich: Wo leben diese hoch sensibilisierten Frauen
eigentlich? In Kalkutta, Kinshasa oder Caracas? Tatsächlich sind es
deutsche Städte, in denen kein Tag ohne „sexual harassment“ und Narben
für die weibliche Psyche vergeht. Ich hingegen habe das nicht
mitbekommen, weil ich nicht wusste, dass sporadisch hinterherpfeifende
Bauarbeiter und schräge Blicke in öffentlichen Verkehrsmitteln eine so
desaströse Wirkung auf meine Seele haben sollen. Doch auch das, so die
„Wir Frauen“ – Fraktion, sei Teil des Problems. Wer gesteht, unter den
Chauvis dieser Welt nicht entsetzlich zu leiden, dem wird unverzüglich
„Verdrängung“ attestiert. Aha, wieder was gelernt.
Umso nützlicher erscheint der #Aufschrei auf Twitter, wo frau als
Opfer-Newcomerin noch viel dazu lernen kann. Einiges von dem, was dort
erzählt wird, entspricht sexueller Nötigung und bedarf absolut der
Thematisierung. Der überwiegende Rest hingegen kommt mir bekannt vor.
Etwa der Physiklehrer, der meint, Mädchen hätten kein Talent für
Naturwissenschaften - womit er in meinem Fall sogar Recht hat. Es war
aber vielmehr die Quantenchromodynamik, die mich nachhaltig
traumatisierte, und nicht der „Sexismus“ des dazugehörigen Lehrers,
dessen Namen ich vergessen habe. Doch in Tagen wie diesen, da halb
Deutschland zum Opfer gekürt wird, muss man eben Prioritäten setzen. Die
Differenzierung zwischen Petitessen, Sexismus und sexueller Gewalt
gehört nicht dazu. Verharmlosung? Iwo.
Indes schreien auch viele Männer gegen die Brüderles und Physiker
dieser Welt auf. Gerne wüsste ich, ob es sich hier um die gleichen
Exemplare handelt, die sich abends in der Kneipe lieber ihrem Bier
widmen, anstatt eine Frau kurz zum Taxistand zu begleiten. Wobei: Auch
das wäre Sexismus, denn der liege immer dann vor, wenn Frauen in einer
bestimmten Situation anders als Männer behandelt werden. So erklären es
zumindest die Aufschreienden.
Ich merke mir: Künftig muss ich ganz laut „Stopp!“ rufen, sobald ich Opfer eines Mannes werde, der mir in den Mantel
zu helfen droht. Oder gibt es etwa doch positiven Sexismus? Und by the
way: Was soll ich eigentlich tun, wenn Brad Pitt auf meine Tanzkarte
will?
Ich gebe zu: Mein neues Leben als Opfer überfordert mich ungemein. Es
gehe nicht darum, sich nicht wehren zu können, sondern es nicht mehr zu
müssen, erfahre ich beiläufig. Also um eine rosa Welt, in der Frauen
nachts keine Angst mehr haben müssen. Das wiederum ist eine prima Idee.
Wenn die Feministinnen mit den Vergewaltigern dieser Welt fertig sind,
sollen sie sich bitte auch die Mörder, Psychopathen und Taschendiebe
vorknöpfen, die mindestens genauso ein Grund sind, als Frau nachts nicht
allein durch dunkle Gassen zu marschieren.
In dem Glauben, das Böse dieser Welt ausradieren zu können, tragen
„wir Frauen“ allerdings gleichzeitig zu einer sterilisierten
Gesellschaft bei. Herrenwitze sind nicht mehr nur geschmacklos, sie
mutieren zu Kapitalverbrechen. Menschen gefährden den Antisexismus, der
erst dann einkehrt, sobald sich kein Blick – ob bewusst oder unbewusst –
in ein Dekolleté verirrt. Schließlich gibt es ja keinen Unterschied
mehr zwischen Kompliment und Sexualmord, zumindest nicht in dieser
Debatte.
Aber vielleicht hat genau das auch einen tieferen Sinn. Frauen werden
zu Opfern, Handküsse zu Verbrechen und Tagebücher inklusive
Selbstskandalisierung zu journalistischen Inhalten. Mir hingegen fehlt
für den Aufstieg zum Opfer noch ein eigener Mädchenblog, um meine
verdrängten Wiesn-Traumata zu verarbeiten. Die „Dirndl-Falle“ wäre doch
ein nettes Motto. See you next time bei Jauch!
Zuerst auf der "Achse des Guten" erschienen.
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