Die aktuelle Ausgabe des „stern“ ist eine Offenbarung für alle, die
schon immer wussten, dass es trotz Gleichberechtigung nach wie vor
miserabel um die Lage deutscher Frauen
bestellt ist. Unter dem Titel „Der Herrenwitz“ enthüllt die
stern-Autorin Laura Himmelreich schier Unfassbares über den „spitzen
Kandidaten“ Rainer Brüderle und dessen Testosteronhaushalt. Der Tatort:
Eine Hotelbar, wo der FDP-Mann ihr vor rund einem Jahr angeblich auf die
Pelle gerückt sein, dumme Sprüche gerissen und wohl ein bisschen zu
lang in Richtung Dekolleté geguckt haben soll. Ein waschechtes „Gate“
also, das Himmelreich, die praktischerweise Zeugin der Anklage und
Berichterstatterin in einem ist, damit geöffnet hat.
Der/die besorgte Leser_In stellt sich jetzt natürlich Fragen: Hat die
Autorin wirklich so lange gebraucht, um dieses Trauma
öffentlichkeitswirksam im „stern“ verarbeiten zu können?
Oder war es doch die Nominierung Brüderles zum Spitzenkandidaten, die
gewisse Erinnerungen weckte? So in etwa. „Eine Geschichte über das ‘neue
Gesicht’ der FDP [hat] nun eine andere Relevanz“, vermeldete
Himmelreich jüngst auf Twitter; was so klingt, als wäre Brüderle zum
Tatzeitpunkt nicht als FDP-Fraktionschef, sondern als Protokoll-Führer
des örtlichen Gärtnervereins tätig gewesen. Ob auch das geforderte „Mehr
an Zivilisation“ und die Chauvi-Krise an sich heute relevanter als
gestern sind, behält sie indes lieber für sich.
Denn schließlich soll es ja auch um Sexismus generell gehen, auch
wenn keiner weiß, wo der eigentlich beginnt. Bei Komplimenten, bei
falschen Blicken, oder gar bei der Tatsache, dass ausgerechnet eine Frau
Brüderles Schlüpfrigkeiten dokumentierte? Und verharmlost man damit
nicht auch sexuelle Gewalt? Nun, ähnlich wie die Schönheit liegt wohl
auch der Sexismus im Auge des Betrachters bzw. der Betrachterin.
Brüderles Dirndl-Weisheiten jedenfalls entsprechen dem, was eine
durchschnittliche Wies‘n-Bedienung täglich hört. Sie sind primitiv,
unhöflich, wenig originell und im Miteinander von Politik und
Journalismus nicht wirklich angemessen.
Gleichwohl weiß frau sich in derartigen Notfällen ja trotzdem zu
helfen. Ignoranz, Konter, Humor oder theatralische Ohrfeigen, ja,
vielleicht sogar ein bisschen verschütteter Wein auf Brüderles Jackett -
irgendwas davon wäre gerade für eine emanzipierte Frau wie Frau
Himmelreich wohl machbar und auch angebracht gewesen. Auch und vor allem
für sie „als Journalistin“, die möglicherweise nicht zum ersten Mal mit
dummen Sprüchen in Berührung kam. Dass sie stattdessen ein Jahr
wartete, um sich medial zu „wehren“, sagt nicht nur viel über ihren
Arbeitgeber, sondern auch über den Zeitgeist, der die Geschichte
umrahmt, aus.
Denn letztlich ist Frau Himmelreich nicht die einzige Heldin, die
sich am immer schlimmer werdenden Alltags-Sexismus abarbeitet. Auch
weitere Hauptstadtjournalistinnen, Politikerinnen und
Hobby-Feministinnen bevölkern mittlerweile ein Biotop, wo munter über
Anti-Sexismus-Workshops für Männer sowie ähnliche Maßnahmen
philosophiert wird. Und Sexismus, dass muss man wissen, beginnt hier
schon bei schrägen männlichen Blicken im Aufzug. Kein Wunder also, dass
die moderne Feministin total im Stress ist. Vor ihr erstreckt sich ein
schier endloses Einsatzgebiet, das beackert werden muss, und auch
unzählige Gruselgeschichten, die als „Tabubruch“ vermarktet werden
wollen.
Aber wer weiß: Vielleicht finden hierzulande auch einfach nur zu
wenige Zwangsehen und Vergewaltigungen statt, gegen die frau noch anschreiben
könnte. So zumindest ließen sich all die Irrungen, Wirrungen und die
hochgejazzte Vorbau-Anekdote erklären. Natürlich: Auch eine Journalistin
darf und soll sich nicht alles gefallen lassen. Man kann ihr aber
wenigstens eine gewisse Hitzebeständigkeit und Entscheidungsfreude
abverlangen. Entweder sie tauscht, wie es bei stern.de so schön heißt,
„Offenherzigkeit gegen tiefes Dekolleté und klimpernde Wimpern“ und
nimmt der Recherche zuliebe das Risiko dummer Sprüche in Kauf. Oder sie
lässt es eben sein.
Bliebe nur noch eines: Mit wem sollten sich Politiker eigentlich in
Zukunft an der Hotelbar unterhalten? Aus Sicherheitsgründen lieber nur
noch mit männlichen Reportern? Oder ausschließlich mit Frauen, die einen
blickdichten Angi-Gedächtnis-Hosenanzug tragen? Spätestens das nächste
„Gate“ müsste diese dringenden Fragen beantworten.
Zuerst auf der "Achse des Guten" erschienen.
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen