Eine deutsche Woche: Sigmar Gabriel und das Ende der Schonfrist


Die deutsche Woche begann in Israel. An ihrem Anfang stand Yom HaShoah, der israelische Gedenktag für die Opfer der Shoah. Pünktlich um zehn Uhr früh tönte an diesem Montag die obligatorische Sirene durchs Land, die diesmal von einer 77-jährigen Holocaust-Überlebenden aktiviert wurde. Tags zuvor, im Rahmen der abendlichen Gedenkveranstaltung in Yad Vashem, erinnerte Präsident Reuven Rivlin unter anderem daran, auch heute bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht wegzusehen.


Da traf es sich gut, dass nun Sigmar Gabriel in Israel eintraf, um seinen ersten Antrittsbesuch als Außenminister zu absolvieren. Auch er wollte klar machen, wo und wann genau er nicht mehr „wegsehen“ möchte. Ein Besuch bei Netanyahu und Rivlin allein wäre ihm im Rahmen dieser Mission zu mau gewesen. Oben drauf musste es schon ein Gespräch mit „Vertretern der Zivilgesellschaft“ sein. „Zivilgesellschaft“ wiederum, darunter versteht Gabriel die NGOs „B‘Tselem“ und „Breaking the silence“. Gruppierungen also, die sich vor allem bei kritischen Europäern, die gewöhnlich auch auf genaue „Herkunftsnachweise“ von israelischem Obst und Gemüse achten, einen Namen gemacht haben. Dass beide NGOs mit der israelischen Zivilgesellschaft so viel zu tun haben wie PEGIDA und der schwarze Block mit der deutschen, muss den Außenminister nicht kümmern.

Es reichte Gabriel schon, klargestellt zu haben, wo genau er Israel auf einer Skala von „demokratisch“ bis „lupenrein“ verortet: irgendwo zwischen Putin, Rohani und Erdogan, wo die Zivilgesellschaft nichts zu melden hat. Dass eben dort die Zivilgesellschaft – gemeint ist eigentlich die Opposition – für hohe Besucher nur selten anzutreffen ist, während dies in Israel sehr wohl möglich ist, verrät schon alles, was man über den Unterschied zwischen Israel und der Türkei wissen muss. Aber so genau muss man es ja nicht nehmen. Schon gar nicht, wenn man Sigmar Gabriel heißt und sich beim Besuch in Kreml lieber ein Autogramm von Vladimir Putin geben lässt, anstatt bei Pussy Riot vorbeizuschauen.

Netanyahu wiederum ließ sein Treffen mit Sigmar Gabriel indes platzen. Davon mag man halten, was man will. Doch selbst wenn es anders gelaufen wäre, hätte es nicht das Fingerspitzengefühl geschmälert, auf das Sigmar Gabriel sichtlich stolz ist. Die Israelkritik-Aktionswochen waren eröffnet.

Nun ist es freilich so, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben. Viele von ihnen sind sogar soweit, dass sie gar nicht mehr daraus lernen können, ohne ihre Lernerfolge unablässig ihrer Umwelt mitzuteilen. Ein schöner Fortschritt, zumindest verglichen mit denjenigen Deutschen, die vor über siebzig Jahren dafür bekannt waren, von nichts gewusst zu haben. Heute hingegen wollen es viele Deutsche ganz genau wissen. Nicht über Auschwitz, nein, darüber weiß man freilich Bescheid. Nun geht es immer öfter um Dresden, um die Rheinwiesen und all die anderen „Verbrechen“, die die Alliierten so begangen haben und die dazu beitragen, die deutsche Vergangenheit ein wenig sonniger erscheinen zu lassen. Auch Gedenken ist eine feine Sache. Aber es müssen ja nicht immer jüdische Opfer sein.

Bei Sigmar Gabriel ist es dagegen komplizierter. Er erwies sich als Meister aus Deutschland, der nicht nur im Ziehen von Lehren, sondern auch im Belehren groß ist. Wobei beides ohnehin Hand in Hand geht, wie man nun lernen durfte. Gleichzeitig scheint er trotz aller Bemühungen auch heute nicht sonderlich viel zu wissen; weder von Auschwitz, noch von Israel. Die „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichte am Montag einen Gastbeitrag Gabriels über professionelles Gedenken und Lernen zwischen Auschwitz, Berlin und Jerusalem. Im Zuge dessen verwies der Außenminister auch auf all die Sozialdemokraten, die „wie die Juden die ersten Opfer des Holocaustes waren“. „Seinen“ Opferstatus musste er anschließend wieder hergeben. Das Auswärtige Amt griff korrigierend ein und versenkte den bislang noch unerforschten „Holocaust“ an den Genossen sodann in den Tiefen des Internets. Aber einen Versuch war es wert.

Wer mit historischem Analphabetismus dieser Art beeindruckt, bei dem verwundert es auch nicht, dass er seinen eigenen Porzellan-Laden extra bis nach Israel verfrachtet, um ihn dort mit den besten Absichten zu zertrümmern. Gerne wüsste man, ob „Breaking the Silence“ und „B’Tselem“ Sigmar Gabriel wichtiger als die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel sind. Aber vielleicht steht der deutsche Außenminister auch über den Dingen und bewegt sich in höheren Sphären, in denen der Klang zerschepperten Porzellans gar nicht wahrnehmbar ist.

Womöglich ist Sigmar Gabriel auch gar nicht das Problem. Das Problem besteht vermutlich eher in der Antwort auf die Frage, welcher namhafte Sozialdemokrat sich bezüglich Israel in jüngerer Vergangenheit eigentlich nicht tendenziell suboptimal verhalten hätte. Mit Martin Schulz gelangten „Fake News“ zum Thema Wasser direkt in die Knesset, unter Außenminister Steinmeier a.D. herrschte frostige Siedlungskritik bei nur spärlicher Hamas-Kritik, Andrea Nahles wiederum entdeckte „gemeinsame Werte“ mit der Fatah, und Sigmar Gabriel hat sich spätestens mit seinem Apartheid-Vergleich zu Hebron einen Namen gemacht. Auf Solidarität seitens der Genossen kann sich der Außenminister also verlassen. Aber auch parteiübergreifend ist ihm überwältigender Beistand gewiss. Daniel Goldhagen würde in diesem Fall vielleicht gar nicht von Sozialdemokraten, sondern von ganz gewöhnlichen Deutschen sprechen.

Zugleich erblickte in dieser deutschen Woche auch eine neue Antisemitismus-Studie das Licht der Öffentlichkeit. 40% der Bevölkerung seien von Israel-bezogenem Antisemitismus beseelt, lautet eine der zentralen Feststellungen des Papiers. Und zugleich eine Zahl, die mindestens verdächtig ist. Das diagnostizierte zumindest Jakob Augstein - der beste Israel-Freund, den die deutsche Medienlandschaft jemals haben wird und ohne dessen Worte eine derart deutsche Woche keine deutsche Woche wäre.
 
Schon der Teaser seiner aktuellen Kolumne klang vielversprechend: „Israel Rechts-Premier Netanyahu hat für eine Wende in der deutschen Israel-Politik gesorgt: Die unverbrüchliche Verantwortung für die Geschichte und die klare Kritik an der Gegenwart gehen jetzt Hand in Hand.“ Nun bestehen theoretisch und auch praktisch viele Möglichkeiten, um dieser „unverbrüchlichen Verantwortung“ gerecht zu werden. Man könnte zum Beispiel tätig werden, wenn ein jüdischer Schüler aufgrund antisemitischer Beleidigungen eine sogenannte „Schule ohne Rassismus“ verlässt. Man könnte aber auch darüber nachdenken, inwiefern es dem Deutschen Bundestag gut zu Gesicht steht, wenn Parlamentarier an Bord einer Terror-Flotte die Seeblockade vor Israel zu brechen gedenken. Oder man könnte sich ernsthaft anschicken und etwas dagegen unternehmen, dass die Vereinten Nationen mehr und mehr zu einer Institution für gehobene Israelkritik mutieren.

 
Aber das wäre vermutlich zu einfach. In Deutschland im Allgemeinen, in Augsteins Büro im Besonderen, mag man es lieber anspruchsvoll. Verantwortung für die Geschichte heißt dann vor allem, Verantwortung dafür zu tragen, dass die deutsche Tradition erhalten bleibt. Dafür zu sorgen, dass Israel nicht ohne gute Ratschläge made in Germany auskommen muss. Die einzig wahre Lehre aus Auschwitz lautet Israelkritik. Oder wie Jakob Augstein zu kolumnieren pflegt: „Dem [Netanyahu] sollte schon mal einer beibringen, wo der Unterschied zwischen Demokratie und Autokratie liegt.“ Gabriel habe „Tapferkeit vor dem Freund gezeigt“ und dem israelischen Premierminister „auf dem demokratischen Weg heimgeleuchtet“. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es Netayanhu ganz alleine in der Finsternis und ohne Gabriels Laterne ergangen wäre. Womöglich hätte er sich allein auf Peter Münch, Israel-Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“, verlassen müssen, der schon zuvor über die „Kollision mit Wladimir Tayyip Netanyahu“ berichtet hatte. Bei der Gelegenheit bescheinigte er Gabriel auch gleich „mehr Mut als seine[n] Vorgänger[n] - und mehr Verantwortung Israel gegenüber“. In der Tat: Es war schon längst höchste Zeit, dem Judenstaat „mutig“ gegenüberzutreten und zu zeigen, wo der Hammer hängt – so oder so ähnlich denkt es im Tel Aviver Korrespondenten-Büro, einer Oase inmitten der undemokratischen Finsternis.
 
 
„Antisemiten können sich hinter "Israelkritik" verstecken“, erklärte Jakob Augstein indes ein paar Absätze später. Sollte derselbe Text die Probe aufs Exempel sein, könnte man ihm zu dieser Pointe durchaus gratulieren. Und eigentlich nicht nur ihm, sondern auch der Online-Redaktion des Hauses, dessen Anteile er besitzt. Denn schon am Vortag ließ „Spiegel Online“ via „Morning Briefing“ mitteilen, dass die Schonfrist für Juden nun auch langsam abgelaufen sei. „Die historisch bedingte Sonderbehandlung Israels stößt mit der Regierung Netanyahu an ihre Grenzen“. So lautete die Drohung, die eigentlich noch viel zu diplomatisch daher kam. Man hätte es auch unverblümter und ohne Schonwaschgang ausdrücken können: Nachdem es Oma und Opa mit der Hebräer-Kritik ein wenig übertrieben haben, war man all die Jahrzehnte gegenüber den Juden ohnehin schon netter, als es normalerweise üblich ist. Nun aber, da der israelische Premier die rote Linie endgültig überschritten hat, ist es höchste Zeit, die „Sonderbehandlung“ einzustellen – beziehungsweise zu ihr zurückzukehren.

 
Und so endet die deutsche Woche dort, wo sie auch planmäßig landen sollte: im Schlussstrich-Terrain, wo jammerdeutsche Abendland-Verteidiger schon fröhliche Umstände feiern. Ein „Ende der Sonderbehandlung“ ist Björn-Höcke-ismus mit anderen Mitteln. Wo der eine endlich mal das Erinnern sein lassen will, wollen die anderen die Samthandschuhe gegenüber Israel abstreifen und eine 180°-Wende der Israelkritik einleiten. Dass es nebenan in der deutschen Realität weder einen „Schuldkult“ noch eine von Überschwänglichkeit geprägte deutsch-israelische Freundschaft gibt, ist dabei nicht von Belang. Derlei Phantasien bilden vielmehr die Stützen, auf denen die Wahnwelt beruht, in der sich deutsche Israel- und Mahnmal-Kritiker von der „Israel-Lobby“ und anderen sinisteren Kräften geknechtet und um ihres Glückes beraubt fühlen. 

 
Historischer Analphabetismus und „Israelkritik“ finden dabei nicht zufällig zusammen, sondern bilden nahezu systematisch eine fruchtbare Symbiose. Der britische Historiker Joseph Peter Stern befand einst, die Bevölkerung im Dritten Reich hätte „so viel und so wenig“ gewusst, wie sie wissen wollte. „Etwas nicht wissen zu wollen, heißt jedoch stets, dass man genug weiß, um zu wissen, dass man nicht mehr wissen will.“ Hinsichtlich der Shoah, der „Sonderbehandlung“ sowie der Lage in Israel hält man es heute augenscheinlich ganz ähnlich: Man weiß gerade so viel, um zu wissen, ab wann man nicht mehr wissen will, um sich auf diese Weise sowohl das Plätzchen an der Sonne als auch das beste Gewissen sichern zu können. Denn was die Akteure der deutschen Woche auszeichnet, sind nicht Dummheit oder Boshaftigkeit, sondern ihre tief sitzende Überzeugung, auf der guten Seite zu stehen.
 
 
Beneidenswert.
 
 
 
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