Kalendersprüche und Kalaschnikows

Allmählich setzt auch in puncto Terrorismus das ein, was man gemeinhin als "Gewöhnungseffekt" bezeichnet. Nicht, dass es normal wäre, wenn Islamisten in Paris oder Brüssel Blutbäder veranstalten und die betroffenen Städte Ausgangssperren verhängen, weil niemand weiß, ob noch weitere Mörder unterwegs sind. Aber die dazugehörigen Reaktionen aus Politik, Medien und parlierender Klasse haben eben doch einen gewissen Nachruf-Charakter. Man holt sie einfach aus der Schublade, wenn es mal wieder soweit ist. Während die Terroristen immer neue Pläne schmieden und immer neue Bombenrezepte entwickeln, um möglichst mehr Menschen als beim letzten Mal zu treffen, hält sich Europa zuverlässig an dasselbe, ritualisierte Rezept.

Politiker sind "bestürzt", was sich erst dann wirklich verifizieren lässt, wenn man auch die zweite Hälfe solcher Aussagen kennt oder die 24-stündige Schamfrist abgelaufen ist. Der Jugendpsychologe Michael Lüders, der irrtümlicherweise für einen Terrorismus-Experten gehalten wird, weist nochmal auf die Perspektivlosigkeit und Verzweiflung der jungen, zornigen Männer mit Sprengstoff-Affinität hin. Simone Peter von den Grünen, die sich gerade in Brüssel aufhält, ist nicht nur schockiert, sondern weiß auch nicht, wie sie nun zu ihrem Termin im Saarland kommen soll. Letzteres behält sie übrigens im Interview lieber nicht für sich. Denn schließlich, so hört man, gab es ja keinen Anschlag auf Menschen, deren Angehörige und die Anwohner Brüssels. Vielmehr galt das Attentat uns allen - der Freiheit, der Demokratie, den EU-Institutionen, den Europäern, dem Islam, und eben auch der Reiseplanung der Vorsitzenden der Grünen.

Derweil wird die nächste Runde des obligatorischen Beschuldigungs-Pingpongs eröffnet. Merkel ist schuld, alle Muslime sind schuld, der Islam hat nichts damit zu tun, bloß keinen Generalverdacht in die Welt setzen. Eine fantasiebegabte Grüne aus der Schweiz äußert ihre Angst vor den Rechtspopulisten, da sind die Leichen noch nicht mal aus der Metro geborgen. Andernorts wird so intensiv hyperventiliert und gescreenshotet, dass man sich fragt, was die Menschheit eigentlich in der Prä-Twitter&Facebook-Ära bei Terroranschlägen getan hat. Mal den Fernseher einschalten, die Ereignisse zu verfolgen, sich fragen, wie es sich wohl anfühlt, gerade jetzt in den betroffenen Städten zu leben? Keine verlockende Option. Mittlerweile finden wir so viele Dinge schlimm, dass wir gar nicht mehr dazu kommen, das jeweilige Attentat, die steigenden Opferzahlen und den Terror an sich schlimm zu finden. Wobei das natürlich insofern von Vorteil ist, als jede Übersprungshandlung uns von dem Gedanken der eigenen wie auch der politischen Machtlosigkeit ablenkt.

Überhaupt, so heißt es, dürfe man jetzt bloß nicht den "einfachen Lösungen" (Grenzen dicht, Vorratsdatenspeicherung) auf den Leim gehen. Das mag ja stimmen. Nur wäre es schön, wenn es wenigstens überhaupt eine Lösung gäbe. Stattdessen rettet sich der ein oder andere in diffuse Begriffswolken und halluziniert über europäische Sicherheitsstrategien, was auch schon anlässlich des Charlie Hebdo Attentats gut klang, aber folgenlos blieb. Wir denken nicht im Albtraum daran, uns in Israel nach effektiven Anti-Terror-Maßnahmen zu erkundigen. Denn Israel gehört nicht gefragt, sondern kritisiert. Auch Brüssel kann zwar eine hübsche Kulisse für EU-Parlamentarier bilden, aber offenkundig nichts dagegen tun, dass Molenbeek zu einer europäischen Außenstelle des Islamischen Staats mutiert. Deutschland guckt derweil zu, wie Salafisten in der Fußgängerzone Nachwuchskräfte rekrutieren und Christen in deutschen Flüchtlingsheimen weiterhin verfolgt werden. Parallel dazu bemühen wir uns sehr, in Form des Türkei-Deals die Kurden zu düpieren, die derweil vom Boden aus gegen den IS die Stellung halten.

Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit, das hört man immer öfter. Und man kann es sich selbstverständlich auch denken, eventuell sogar dem Nachbarn anvertrauen. Nun allerdings verbreiten auch Politiker vermehrt derlei Phrasen. Das finden wir dann immer sehr "ehrlich" und freuen uns darüber, dass gewählte Volksvertreter uns ausnahmsweise nicht wie kleine Kinder behandeln. Die Frage ist nur, was daraus folgt. Null-prozentige Sicherheit für alle? Oder 35-prozentige bei gutem Wetter? Der Staat möchten zwar die globale Erwärmung um zwei Grad Celsius reduzieren, aber in puncto nationale Sicherheit will er sich weder auf eine hochprozentige Marke festlegen, noch eine solche zum Ziel erklären. Stattdessen konzentriert er sich auf vermeintlich ehrliche Kalendersprüche. Die klingen sicherlich prima – aber Grundlage dieses Gesellschaftsvertrags sind sie eben blöderweise nicht.



Ebenfalls in der April-Ausgabe (Print) der "Jüdischen Rundschau" erschienen.
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Die Merkel'sche Allheil-Lehre: immer wissen, was man nicht will

Zu den entzückendsten Details der Flüchtlingskrise gehört vor allem der Eiertanz rund um die Türkei. Blickt man in die grün-dunkelrote Ecke, so erwischt man dort die geballte Empörung beim Feiern fröhlicher Umstände. Völlig zu Recht wird das autokratische Gebaren Erdogans kritisiert, sein Umgang mit Journalisten, Kurden und Oppositionellen im Allgemeinen. Was sicherlich noch etwas authentischer wirkte, wenn da nicht der Umstand wäre, dass die Erdogan-Kritikerin Claudia Roth schon mal unterwürfig mit Kopftuch im Iran gesichtet wurde und ihre Kollegen von weiter links sich hin und wieder auch für die Menschenrechte von Hamas-Mitgliedern einsetzen.

Da beruhigt es, in Berlin auf Politiker zu stoßen, die aus ihrem Herzen keine Diktatorengrube machen. Innenminister Thomas de Maizière etwa ließ diese Woche mit Blick auf jegliche Türkei-Kritik ausrichten, Deutschland solle „nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“. Das ist zum einen erfrischend ehrlich, zum anderen gar nicht so schlimm, wie es klingt. Denn dafür sind wir immerhin Weltmeister in den Disziplinen „freundliches Gesicht“ und „gefühlte Humanität“. Und das ist ja auch schön.

Abgesehen davon unterscheiden sich Opposition und Regierung aber keineswegs hinsichtlich des Grades an Realitätsverweigerung, mit dem sie die Flüchtlingskrise zu bewältigen gedenken. Ganz links möchte man keinen Türkei-Deal, allerdings auch keine Reduzierung der Flüchtlingszahlen, stattdessen aber mehr Kampf gegen rechts. Und links, also dort, wo die Regierung derzeit ihren Sitz hat, will man zwar weniger Flüchtlinge und mehr Türkei, gleichzeitig aber auch weiterhin ein freundliches Gesicht zeigen.

Böse Zungen behaupten derweil, Angela Merkel hätte überhaupt keinen Plan. Das stimmt allerdings nicht ganz. Denn immerhin weiß die Kanzlerin ziemlich genau, was sie nicht will. Mal fordert sie ein „Ende des Durchwinkens“ auf dem Balkan, nur um kurz darauf vor geschlossenen Grenzen und nationalen Alleingängen zu warnen. Ein ander‘ Mal beschwert sie sich über die Verengung des Balkan-Korridors, allerdings nicht, ohne den betroffenen Migranten zu raten, sich eben in Griechenland eine Unterkunft zu suchen. Angela Merkel möchte keine Flüchtlinge aus Griechenland beherbergen, überhaupt will sie keine hohen Zahlen. Sie möchte aber auch keine Obergrenze, keine hässlichen Bilder und keine geschlossenen Grenzen, erst recht nicht in der Nähe von Passau oder Freilassing.

Das eint sie mit großen Teilen des politischen Berlins. Man hat zwar keinen konkreten Plan, dafür aber einen erhobenen Zeigefinger. Der wiederum kommt immer dann zum Einsatz, wenn der ein oder andere Rest-Europäer eine Entscheidung umsetzt, anstatt auf die Erfolge der deutschen Wünsch-dir-was-Strategie zu warten. In solchen Situationen verstehen die Deutschen nämlich keinen Spaß. „Dann ist Europa am Ende, wenn jeder für sich festlegt, was er macht“, belehrte Katrin Göring-Eckardt den dunkelösterreichischen Außenminister Kurz jüngst bei Anne Will, als es um die alpine  Obergrenze ging. Und ja, wahrlich: Wo kämen wir nur hin, wenn souveräne Nationalstaaten womöglich eigene Entscheidungen träfen, ohne vorher bei den Grünen, Angela Merkel oder Martin Schulz eine Genehmigung einzuholen?

Deutsche Politiker des 21. Jahrhunderts lesen eben nicht Aristoteles oder Machiavelli, sondern Antoine de Saint-Exupéry. Sie wissen daher auch: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Oder wenigstens mit dem, was sie dafür halten.

Nun allerdings droht ohnehin alles gut zu werden. Die europäische Lösung, die zunehmend zu einem Euphemismus für den Terminus „deutsche Lösung“ mutiert, rückt näher. Waren es bis dato noch die Flüchtlinge, die festlegten, in welcher Zahl sie an welchem Ort um Asyl baten, so soll es nun Sultan Erdogan sein, der über die nationalen Geschicke Europas entscheidet. Und die dazugehörigen hässlichen Bilder? Für die sind wir als Deutsche ja dann nicht verantwortlich. Angela Merkel schaut indes lieber zu und schnürt ein paar Asylpäckchen. Warum sollte die „mächtigste Frau der Welt“ auch über den Schutz ihrer eigenen Grenzen oder den der europäischen Außengrenzen nachdenken, wenn sich diese lästige Aufgabe ebenso an einen sympathischen Despoten delegieren lässt, der mit Tränengas ohnehin mehr Erfahrung hat? Das Leben kann schließlich so schön sein, wenn man sich nicht um alles selbst kümmern muss.

Im Gegenzug erhält die Türkei nicht nur ein paar Milliarden, Aussicht auf einen EU-Beitritt, einen menschenrechtlichen Koscherstempel und weitere Schmankerl, sondern auch direkten Einfluss darauf, wie es von der kommunalen Turnhalle bis hin zum Bundeshaushalt, der Rentenkasse und den Wahlergebnissen der AfD weitergeht.

Indes erklärt die Bundeskanzlerin noch schnell, was im Übrigen gar nicht in die Tüte kommt: „Es kann nicht sein, dass irgendetwas geschlossen wird“, verkündete sie noch vor dem EU-Gipfel mit Blick auf die geplante Total-Abriegelung der Balkanroute.

Und die Rest-Europäer? Die warten vermutlich darauf, endlich hinsichtlich der Merkel’schen Allheil-Lehre erleuchtet zu werden. Natürlich, über Quoten und Kontingente ist man sich noch nicht einig. Die eigenen Zäune hat man derweil umso lieber gewonnen. Darum wird man sie vermutlich vorsichtshalber stehen lassen. Schließlich kann man nie wissen, ob dem Herrn Erdogan zwischen Kurdenkrieg und Gleichschaltung der Presse nicht doch das ein oder andere Schlauchboot auf dem Radar entgeht. Und warum es humaner sein soll, Menschen statt nahe Griechenlands oder Mazedoniens nun eben in der Türkei aufzuhalten, hat man zwischen Paris und Warschau ebenfalls noch nicht ganz durchschaut. Die europäische Lösung ist auch deshalb sehr deutsch, weil nur Deutschland sie unbedingt will und braucht.

Aber wie sagte Angela die Erste doch erst neulich in ihrer Regierungserklärung bei Anne Will? „Wenn’s am Montag nichts wird, dann haben wir am 18. März den nächsten Gipfel.“ Und wenn es dann immer noch nicht klappt, treffen wir uns eben so lange, bis es funktioniert. Oder bis die Türkei zu Europa gehört, der Brennerpass zu einem zweiten Idomeni mutiert, ein „Libyen-Deal“ mit der dortigen IS-Filiale auf der Tagesordnung steht und der Kontinent ohnehin aus Stacheldraht besteht. Wir als Deutsche haben jedenfalls einen Plan: Wir wissen immer ganz genau, was wir nicht wollen. Und das wiederum mit einem unheilbar guten Gewissen, von dem das restliche Europa nur albträumen kann.


Zuerst auf der "Achse des Guten" erschienen.
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Hurra, die Flüchtlingskrise finanziert sich von selbst!

Erfreuliches kam jüngst aus der Redaktion der Süddeutschen Zeitung: Die Flüchtlings-Causa belastet niemanden finanziell, ganz im Gegenteil. Sie finanziert sich sogar nahezu von selbst. Denn das dafür "investierte" Geld ist ja nicht weg. Es ist eben nur woanders. Zum Beispiel in den Portemonnaies der Asylsuchenden, die es wiederum ausgeben und so die Wirtschaft ankurbeln. Oder auf den Konten der neu eingestellten Lehrer und Polizisten, die ja ebenfalls einen Teil ihres vom Staat erhaltenen Einkommens in Form von Steuern wieder abgeben und somit der Allgemeinheit allem Anschein nach etwas Gutes tun. Der Original-Ton klingt dann so:


"Was die Neuankömmlinge an Taschengeld bekommen, geben sie großteils hierzulande wieder aus. Auch jeder zusätzliche Lehrer und Polizist, der eingestellt wird, bekommt ein Gehalt, das in Deutschland besteuert wird. Fachleute rechnen damit, dass die deutsche Wirtschaft wegen solcher Effekte 2016 etwa 0,5 Prozentpunkte schneller wächst, als es ohne Flüchtlinge der Fall gewesen wäre. Zur Einordnung: das macht ein reales Plus von 15 Milliarden Euro, von denen einige Milliarden an Steuern abgehen. Die Krise finanziert sich also zu einem Teil selbst."


Unabhängig davon, welcher Fachmensch welche Zahl für die allein seligmachende Zahl hält, stellen sich zwei Fragen: Was wäre nur aus all den Milliarden geworden, wenn sie nicht in die Taschen von Container-Produzenten, neu eingestellten Beamten oder auch nur in die Überschuss-Kasse Wolfang Schäubles geflossen wären? Wären all diejenigen, die es erwirtschaftet haben, damit womöglich ins Casino gegangen? Oder hätten sie es hinterher nur auf ihr Sparbuch buchen lassen, wo lukrative Nicht-Zinsen locken? Man weiß es nicht. Aber mit Sicherheit hätten sie niemals die 0.5 Prozentpunkte erwirtschaftet, die uns die Flüchtlingskrise nun beschert. Davon ist man überzeugt.

Und zum anderen: Woran liegt es eigentlich, dass der Hauptinvestor - nämlich vor allem der Steuerzahler, der weder als Polizist, Lehrer oder Prepaidkarten-Händler wirkt - in dieser Rechnung nicht vorkommt? Wie, der bekommt seinen Einsatz oder wenigstens Teile davon nicht zurück? Achso, klar, natürlich nicht. Aber das Investment ist ja wenigstens nicht weg. Nur woanders.

Vielleicht täte es der Debatte nicht schlecht, wenigstens Zahlen Zahlen sein zu lassen. Über eine Million Neubürger in einem Wohlfahrtstaat kosten etwas. Die Flüchtlinge / Schutzsuchenden / Migranten können nichts dafür, dass das so ist. Und vielleicht sollte sich die Kostenfrage überhaupt nicht stellen, wann immer es um real existierende Humanität gibt. Vielleicht haben wir es aber auch nur mit gefühlter Humanität zu tun, die mit einem freundlichen Gesicht serviert wird. Dann kann man sich beispielsweise die Frage stellen, inwiefern es sinnvoll ist, neben Bürgerkriegsflüchtlingen auch marokkanische Antänzer zu unterstützen.

Aber die beeindruckende David-Copperfieldiade, die immer dann aufgeführt wird, wenn es um die Kosten geht, ist nicht weniger verlogen als die Stilisierung jedes Flüchtlings zum Dr. med. Raketenwissenschaftler.
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