Betreut leben in Deutschland: Willkommen in der Wohlfühlfalle

Seit Kurzem möchte Angela Merkel gerne von mir wissen, was mir persönlich im Leben wichtig ist. Und weil sie laut eigenen Angaben auch neugierig ist, will sie zudem in Erfahrung bringen, was meinem Empfinden nach „Lebensqualität in Deutschland ausmacht“. Nun bin ich mir nicht ganz sicher, ob das die Kanzlerin überhaupt etwas angeht. Aber zum Glück bin nicht nur ich gefragt, sondern alle. Das ist die Geschäftsgrundlage des im Frühjahr etablierten Bürgerdialogs, der das schwungvolle Motto „Gut leben in Deutschland“ trägt.
Eine Art Weihnachten für Erwachsene also, nur früher. Zuerst darf sich der Bürger, natürlich ganz auf Augenhöhe, etwas wünschen – beispielsweise Kitaplätze, höhere Löhne in der Pflege, weniger Straßenlärm. Im Gegenzug nickt Angela Merkel wohl dosiert und kündigt an, das „Thema aufzunehmen“. Denn schließlich geht es der Bundesregierung vornehmlich darum, „Maßstäbe für Lebensqualität in all ihren Facetten [zu] identifizieren, um sich künftig noch konkreter an dem zu orientieren, was den Menschen in Deutschland wichtig ist“.

Wer allerdings nicht die Chance hat, seinen Wunschzettel bei einem persönlichen Treffen vorzutragen, kann das auch online tun. „JanundHenri“ zum Beispiel hätte gern „Weniger Markt, mehr Mensch, vielleicht auch mehr Staat“, weil „alle nur an sich denken“. „Demokrat123“ plädiert indes für mehr „Entschleunigung“ durch Yoga und Anti-Stress-Kurse. Derweil will „GUTESLEBEN“ gerne mal die „digitale Welt abschalten“, während „TrIz“ Toleranz als Schulfach vorschlägt. Überhaupt muss man sich um die hiesige Lebensqualität große Sorgen machen, wird sie doch von Braunkohle-Subventionen, den Steuerberatern Amazons und gentechnisch veränderten Lebensmitteln erheblich getrübt. Zwar sind Familie, Freunde und Gesundheit vielen wichtig. Und doch bringt die Sehnsucht nach mehr sozialer Gerechtigkeit, besserem Klima- und Umweltschutz, höherem Kinder-, Betreuungs- oder Elterngeld und gekürzten Manager-Boni die Teilnehmer des Bürgerdialogs um den Schlaf.

Nun mag man den Bürgerdialog für perfides „Nudging“, für eine politische Variante von „Wünsch dir was“ oder auch nur für eine clevere Antwort auf die Wutbürger aus Dresden, deren Markenkern in chronischem Sich-Missverstanden-Fühlen bestand, halten. Mir persönlich macht er allerdings in erster Linie ein bisschen Angst.

Natürlich gehe ich konform mit denjenigen, denen Gesundheit wichtig ist. Aber ich würde das nicht so offen im Bürgerdialog zugeben. Denn man weiß ja nie, ob hinterher noch eine Steuer auf zuckerhaltige Lebensmittel eingeführt wird, um mich vor mir selbst zu schützen. Generell stellt sich die Frage, inwiefern der Staat von heute überhaupt wesentlich zur Lebensqualität beitragen kann. Zweifellos freue ich mich darüber, dass die Müllabfuhr meistens pünktlich kommt. Aber die ebenso geschätzte Möglichkeit, im Supermarkt zwischen siebzehn Sorten Joghurt wählen zu können, fällt eher nicht in den Verantwortungsbereich der Bundesregierung. Die dazu erforderliche Freiheit, die Wohlstand durch Wettbewerb überhaupt erst ermöglicht, ist auch nicht unbedingt eine milde Gabe irgendeiner Regierung, sondern Grundbedingung menschlichen Daseins.

Umso unheimlicher erscheinen der qua Bürgerdialog nachvollziehbare Redebedarf vieler und die Anspruchshaltung einiger. Es sieht nicht nur so aus, als wären die Deutschen nicht in der Lage, ihr Glück ohne staatliche Hilfe zu managen – eher könnte man meinen, sie würden die Verantwortung für ihr Wohlergehen ganz automatisch nicht bei sich, sondern zuallererst irgendwo zwischen Angela Merkel und Manuela Schwesig verorten. Und das nicht etwa insofern, als eben dort tatsächlich Gesetze und Verordnungen entstehen, die den bestehenden Wohlstand mitunter in die Bredouille bringen. Vielmehr geht es den Bürgern darum, einen vermeintlich selbstverständlichen Zugewinn an Glück einzufordern, der nur durch staatliches Handeln entstehen kann. Schließlich ist „pursuit of happiness“ als Verfassungsgrundsatz ja auch keine deutsche Erfindung.

Insofern handelt die Bundesregierung nur konsequent, wenn sie fragt, was sie denn tun kann – und nicht etwa, was sie doch bitte unterlassen möge. Sonst wäre sie ja überflüssig. Dennoch traue ich dem „guten Leben in Deutschland“ nicht ganz über den Weg. Zum einen, weil ich es ja bezahlen muss – ob ich will, oder nicht, ob es mir gefällt, oder nicht. Die Kosten für mehr Elterngeld, Rente und Windräder sind die Schulden von heute und die Steuern von morgen.

Zum anderen aber auch, weil die Große Koalition das „Wünsch dir was“-Prinzip ohnehin schon mit Bravour verinnerlicht hat. Für einige Mütter gibt es eine höhere Mütterrente, Mieter freuen sich über die Mietpreisbremse, angehende Rentner über die Rente mit 63, gut qualifizierte Frauen über die Frauenquote und alle anderen über den Mindestlohn. Nur das mit dem Paternoster liegt ein wenig im Argen, was aber nicht tragisch ist, weil Andrea Nahles sich stattdessen umso intensiver der Senkung der Burnout-Quote widmen kann. Trotzdem sind einige Menschen immer noch so verzweifelt, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als sich im Online-Bürgerdialog über unbezahlbaren Wohnraum zu beschweren. Das liegt aber vermutlich weniger an den durchschnittlichen Preisen pro Quadratmeter, sondern am Bürgerdialog an sich und der um sich greifenden Geberlaune.

Denn wo viel zu verteilen ist, wachsen auch die Begehrlichkeiten. Die sehen dann etwa so aus: „Natürlich sollen Flüchtlinge Asyl erhalten, aber es kann doch nicht angehen, dass in der benachbarten Grundschule der Putz aufs Lehrerpult bröselt und die Politik nur zuschaut.“ – „Die Frauenquote für große Unternehmen ist ja schön und gut, aber ich als alleinerziehende Mutter auf Jobsuche werde auch täglich diskriminiert.“ – „Selbstverständlich gibt es Menschen, die es nötiger haben, aber mein BAföG könnte dennoch üppiger ausfallen, denn schließlich nützt meine Dissertation über ‚Spanische Grabliegefiguren um 1600‘ ja irgendwann mal der Gesellschaft.“

Der Erfolg von derlei Veranstaltungen entfaltet sich weniger beim Bürger, sondern besteht hauptsächlich in den neuen Geschäftsfeldern, die sich für Politik wie Verwaltung eröffnen – und natürlich in der Illusion totaler Gerechtigkeit. Dabei zählt vor allem der Anschein, regelmäßig etwas gegen die unzähligen Gerechtigkeitslücken zu unternehmen. Ob das wie geplant klappt, ist schon wieder zweitrangig. Nichtstun hingegen ist eine Sünde, die der Wähler mit Stimmenentzug ahndet. Denn der Einwohner des Wohlfahrtsstaats betrachtet sich primär als Empfänger von Wohltaten, die ihm kraft seiner Existenz zustehen. Sollte dem nicht so sein, womöglich gar die Gruppe X oder die Minderheit Y mehr Geschenke aus Berlin abstauben, wird der Bürger sauer und fordert seinen vermeintlich fairen Anteil. Er konkurriert beständig mit seinesgleichen um Sozialleistungen und politische Aufmerksamkeit, und zwar in einer gierigen Art und Weise, die er sonst nur „den Bankern“, Konzernen sowie dem Kapitalismus an sich attestiert. Das sind die Risiken und Nebenwirkungen des gut genährten Wohlfahrtsstaats, der kraft seiner Konstitution stetig neue Anreize zum Fordern und Neiden schafft.

In diesem Sinne wäre es vielleicht klüger, den Bürgerdialog einfach umzubenennen. „Mündel-Dialog: Betreut leben in Deutschland – jetzt auch mit Unzufriedenheitsgarantie“ wäre doch eine passende Idee. Was dagegen die Fragen der Kanzlerin angeht, worin für mich Lebensqualität besteht, ist mir indes immer noch keine ordentliche Antwort eingefallen. Außer vielleicht, dass weniger Dialog und mehr Sommerpause schon einmal ein guter Anfang wären.


Zuerst auf "Tichys Einblick" erschienen.

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Humor ist, wenn man trotzdem lacht

Der Witz hat es hierzulande nicht leicht. Entweder ist er banal und unlustig, oder er ist gut und verursacht beleidigte Mienen. Dann bedarf es einer Witzkommission, die seine Existenzberechtigung prüft. So ähnlich ergeht es auch dem heute in den Kinos anlaufenden Film "Heil". Die Handlung spielt in einem ostdeutschen Kaff namens Prittnitz, wo drei Neonazis einen afrodeutschen Buchautor kidnappen. Sie verpassen ihm einen Schlag auf den Kopf, er verliert sein Gedächtnis und plappert fortan alles nach, was man in Dörfern wie diesem eben so sagt. Daraus erwächst eine Komödie über Menschen, die laut Regisseur Dietrich Brüggemann »ihre eigene Satire generieren«.

"Heil" hat die immer gleiche Gretchenfrage mit im Gepäck: Darf man sich über Neonazis lustig machen? Über sie spotten, während genau solche Gestalten gerade Freital auf den Kopf stellen? Die Antwort lautet: Nein, man darf nicht, man muss sogar. Und sei es auch nur, um den politischen Witz von dem Generalverdacht zu befreien, stets Gefühle zu verletzen oder sein Sujet zu verharmlosen. Denn beides könnte nicht falscher sein.

Natürlich sind national befreite Zonen im Osten und das dazugehörige Gedankengut nicht unbedenklich. Auch sein Hang zur Gewalt sichert dem Neonazi zu Recht die Aufmerksamkeit der Behörden. Aber muss man Otto Normalnazi aus Brandenburg darum immer voller Ernst begegnen? Ihn nur durch Reportagen in Szene setzen, in denen er mit Fackeln durch irgendein Dorf stapft? Lieber nicht.

Denn das Geschäftsmodell des Neonazis besteht ja gerade darin, möglichst bedrohlich zu wirken. Alles andere, etwa reeller politischer Einfluss oder ein NPD-Ortsverein ohne V-Leute, ist nicht mehr drin. Dafür hat der Kampf gegen Rechts seinen Job schlicht zu gut erledigt. Übrig bleiben meist nur noch hitlergrüßende Witzfiguren in Opas Wehrmachtsuniform. "Heil" zeigt eine solche, nämlich ideologisch verblendete, banale und furchtbar armselige Lebensweise, die zu jämmerlich ist, um sich nicht über sie lustig zu machen.

Heinrich Heine hatte recht, als er schrieb: »Die Dummheit geht oft Hand in Hand mit Bosheit.« Aber dazwischen passt immer noch ein Witz. Und der soll das tun, wozu er da ist: das Banale in den Mittelpunkt rücken und so der Bosheit die Geschäftsgrundlage entziehen.


Zuerst in der "Jüdischen Allgemeinen" (Print & Online) erschienen.
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#JeSuisMartinSchulz

Den Griechen gebührt unser Mitgefühl. Von Regierungen gebeutelt, die mehr ausgaben, als sie einnahmen, müssen sie nun für 60 Euro Schlange stehen.

Doch aller Anteilnahme zum Trotz: Denkt eigentlich auch irgendjemand einmal an Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident aus Leidenschaft, und vor allem daran, was aktuell in ihm vorgehen muss? Denn schließlich spielen sich die wahren Tragödien menschlicher Existenz nicht immer im Lichte der Scheinwerfer ab, sondern eher abseits desselbigen. So auch nun, da Martin Schulz – das griechische Volk im Herzen, die europäische Vision auf den Lippen tragend - an wirklich keinem Mikrofon tatenlos vorbeigeht, nur um danach weiterhin die Trümmer seines Lebenswerks zu betrachten.

Jahrelang talkte er sich landauf, landab im Dienste der „europäischen Idee“ die Stimme heiser. Ob Illner, Plasberg oder Jauch, kein Weg war ihm zu weit, keine Frage zu unterkomplex, um nicht mit ruhiger Stimme bedacht zu werden. Natürlich: Manchmal musste er auch laut werden, gar seine Betriebstemperatur auf feurige 90°C-Sauna-Optik hochfahren. Immer dann etwa, wenn jemand sich erdreistete, die reine Lehre aus Brüssel anzuzweifeln. Denn auch Begegnungen mit lästigen Ketzern wie Wolfgang Bosbach oder Richard Sulik blieben ihm im Rahmen seiner Mission nicht erspart. Ketzer, die im Gegensatz zu ihm und trotz hörbaren Zuredens den Stein der Weisen bis heute nicht gefunden haben. Sie waren und sind es, die den waschechten Europäer davon abhielten, die ihm eigene Gelassenheit zu offenbaren, welche man innerhalb seiner Partei sonst nur von Helmut Schmidt gewohnt ist.

Allen Widrigkeiten zum Trotz blieb er jedoch stark, stets die Konsequenzen seines leichten Hangs zur Hypertonie in Kauf nehmend - denn schließlich ist Martin I. kein Choleriker, er sieht nur so aus. Und letztlich: Was tut man nicht alles für das Friedensprojekt Europa? Wahlkampf zum Beispiel. Fast hätte sie ja auch geklappt, die Sache mit dem Amt des Kommissionspräsidenten. An intellektuell aufdringlichen Slogans („Für ein Europa der Demokratie. Nicht der Bevormundung“) mangelte es jedenfalls nicht. Also: Fast hätte er das Rennen gewonnen, wenn, ja, wenn ihn Jean-Claude Juncker nicht auf der Zielgeraden überholt hätte.

Ein Martin Schulz aus Würselen gibt allerdings nicht auf. Sogar seinen hoch dotierten Job als Bürgermeister des gleichnamigen Städtchens ließ er einst sausen, nur um erst als Parlamentarier, später dann als Chef des europäischen Parlaments unter nahezu unzumutbaren finanziellen Entbehrungen (200.000€ Gehalt + 110.000€ Tagegeld steuerfrei p.a. für Sitzungen im Parlament, aber auch im Café oder im heimischen Wohnzimmer) an der Umsetzung der europäischen Idee mitzuwirken.

Doch nun, da Mister Schulz alles, wirklich alles - von der aussichtsreichen Karriere als Buchhändler bis hin zur innigen Männer-Freundschaft mit Silvio Berlusconi - aufs Spiel gesetzt hat, betreten die Griechen seine Bühne und schlagen alles kurz und klein. Die wollen kein Europa Würselener Art - die wollen Cash, weil sie es können. Was Martin Schulz, der freilich ausschließlich für „ein Europa der Menschen, nicht des Geldes“ einsteht, nicht verstehen kann.

Immerhin vermeldete Schulz schon zwei Tage nach Tsipras‘ Wahlsieg, er habe „keinen Bock auf ideologische Debatten“. Allein, die Standleitung nach Athen muss wohl defekt gewesen sein. Und so sah er sich erst neulich wieder genötigt, „ideologische Abrüstung“ im Verhandlungsmarathon um Griechenland anzuordnen.

Denn Ideologie ist des Schulzens Sache nicht. Er hat es mehr mit der Freiheit, zumindest aber mit seiner eigenen. Darum empfiehlt er den Griechen für das nahende Referendum nicht nur ein „Ja“ (... „für ein Europa der Demokratie, nicht der Bevormundung“), sondern auch gleich baldige Neuwahlen. Wenn die eine Regierung nicht passt, bedarf es eben einer anderen. Bis dahin wünscht er sich eine „technokratische Regierung“, mit der man verhandeln könne. Denn der Chef des europäischen Parlaments weiß: Was in Brüssel funktioniert, kann in Athen nicht scheitern.

Bis dahin allerdings muss er tatenlos zusehen, wie die ungehobelte Boy-Group aus Athen nicht nur das Ansehen der europäischen Idee, sondern auch seine Image als kompetenter Europa-Architekt in einer Art und Weise erschüttert, die man nur von Erdbeben der Stärke 8 aufwärts kennt. Dabei ist Martin Schulz mitsamt seiner Brüsseler Brüder im Bürokraten-Geiste ja gar nicht unfähig, der ideologische Unterbau, auf dem sie operieren, keine Katastrophe. Es wirkt eben nur aktuell so. Und das ist der eigentliche Kern der griechischen Tragödie mit Martin I. in der Hauptrolle.


Zuerst auf der Achse des Guten erschienen.
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