Jedes Volk hat so seine liebenswerten Eigenheiten. Die Amerikaner fragen erstmal jeden, wie es ihm geht. Franzosen und Italiener nehmen ihr Abendessen ungern vor 21 Uhr ein. Und die Deutschen wiederum lassen seit Jahrzehnten nichts über ihren NS-Vergleich kommen. Im antifaschistischen Gewerbe etwa trifft man öfter mal Menschen an, die sich für eine Reinkarnation Sophie Scholls halten, nachdem sie eine No-Pegida-Demo absolviert haben. Andernorts weiß man ganz genau, wann oder nach welcher Landtagswahl es wieder 1933 geschlagen hat. Dass die Israelis mit den Palästinensern das anstellen, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben, zählt ebenfalls zu den allgemein anerkannten Urteilen über die Lage im Nahen Osten. Und gelegentlich finden sich auch unter gut integrierten Muslimen profilierte Experten für deutsche Geschichte, die sich als Vertreter der „neuen Juden“ vorstellen. All das ist übrigens keineswegs postfaktisch, sondern extrem naheliegend. Denn wer, wenn nicht die Deutschen als solche, könnte ein besseres Näschen für derlei Angelegenheiten haben? Schließlich hatten sie ja schon mal ein echtes 1933. Insofern müssen sie wissen, wann es wieder so weit ist. Dass Oma und Opa das Original damals verschlafen haben, tut dieser Gabe dabei keinen Abbruch, sondern bildet vielmehr deren Fundament.
Seit einiger Zeit wird der inoffizielle Wettbewerb um den schönsten NS-Vergleich allerdings um eine noch anspruchsvollere Disziplin erweitert. Deutschland sucht nicht nur den Super-NS-Vergleicher, sondern auch den Super-NS-Vokabular-Verbraucher. Gute Chancen im Casting versprechen derzeit folgende Deutungen der Wirklichkeit: Angela Merkel arbeitet tagein tagaus an der „Umvolkung“ der Deutschen. Die Medien (aka „Lügenpresse“) sind allesamt „gleichgeschaltet“. Und diejenigen, die sich mit dem schleichenden „Völkermord“ nicht abfinden wollen, wünschen sich „Nürnberger Prozesse“. Fürs Erste würde ihnen aber ein Graf von Stauffenberg reichen. Denn schließlich ist man ja gewissermaßen auch ein „neuer Jude“, bei dem man gar laut eigenen Angaben bisweilen „nichts kaufen“ dürfe. Ohnehin gibt es mittlerweile schon mehr „neue Juden“ als Juden und jüdische Freunde.
Angesichts dieser Umstände bleibt natürlich kaum Zeit für Fragen. Gerne wüsste man, ob das noch gescheiterte Reeducation oder schon Vergangenheitsbewältigung ist. Spannend wäre auch, zu erfahren, ob sich das Leben der Gleichschaltungs-Experten wie im Warschauer Ghetto anfühlt, oder ob das Warschauer Ghetto dementsprechend ein Spielplatz mit Wifi war. Aber das sind Kleinigkeiten, wo doch letztlich vielmehr Verständnis und Empathie gefragt sind. Der Nationalsozialismus hat den Deutschen damals schon genug abverlangt. Da will man sich heute nicht auch noch das dazugehörige Vokabular samt prickelnder Erotik, die schon beim Tippen des Wortes „Umvolkung“ einsetzt, nehmen lassen. Es kann schließlich nicht alles umsonst gewesen sein. Und was könnte nachhaltiger sein, als derlei Goldstücke der deutschen Sprache andächtig und pflichtbewusst zu recyclen? Eben.
Nicht ohne mein NS-Vokabular!
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