Am 23. Juni 2012 feiert die „Bild“-Zeitung 60. Geburtstag – und ganz
Deutschland soll mitfeiern. Deshalb wird das Blatt nämlich an diesem Tag
frei Haus und gratis an alle Haushalte der Bundesrepublik, also
insgesamt 41 Millionen,
verteilt. Darüber kann man sich freuen, oder man lässt es. Eigentlich.
Denn im Internet fühlt sich so manch einer durch diese Aktion enorm
belästigt, weshalb das UnBILDungs-Bürgertum in diversen
Kommentarspalten, Blogs und Foren bereits zum Zwergenaufstand bläst.
Offenbar sieht sich eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende Masse
Mensch von einer kostenlosen Boulevardzeitung, die an einem von 365
Tagen kostenlos im Briefkasten liegt, ernsthaft bedroht. Deshalb gilt es
nun, Haus und Hof mit allen Mitteln vor der nahenden Invasion zu
verteidigen. Da wird überlegt, ob man nicht vielleicht den Briefkasten
zukleben sollte, während man andernorts bereits kreative „Bitte keine
,Bild‘ einwerfen“-Aufkleber konzipiert. Einige Zeitgenossen gehen da
schon einen Schritt weiter und wehren sich juristisch. Mittlerweile
kursieren bereits Musterschreiben von übermotivierten Rechtsanwälten,
die vielleicht kaum Mandanten und deshalb genug Zeit haben, rechtliche
Schritte gegen den Springer-Konzern zu eruieren. Diese Vorlagen muss man
nur noch ausdrucken, unterschreiben, und nach Berlin schicken. Bei der
Frage, ob man dabei selbst 55 Cent für die Briefmarke investieren müsse,
oder diese nicht dem Springer-Verlag in Rechnung stellen könnte,
scheiden sich momentan allerdings noch die Geister.
Alternativ könnte man ebenso das „Bild“-Exemplar an sich umgehend zur
Post tragen und zurück an den Absender schicken, wobei man auch hier
nach der „Porto zahlt der Empfänger“-Variante verfahren sollte. Dafür
müsste man es allerdings anfassen, was das Gros der „Bild“-Kritiker laut
Eigenaussage nur mit Schutzanzug und Kneifzange tun würde. Da bietet es
sich schon eher an, prophylaktisch den E-Mail-Server der
„Bild“-Redaktion mit Protest-E-Mails zu fluten – das ist bequem, kostet
nix und fühlt sich dennoch wahnsinnig revolutionär an. Demnach also die
beste Lösung für den elitären Antifaschisten des 21. Jahrhunderts, der
auch grundsätzlich nur dann „gegen rechts“ demonstriert, wenn das
Polizeiaufkommen vor Ort groß und das Wetter gut genug ist.
Summa summarum ist man sich einig: Diekmann hat den Rubikon eindeutig
überschritten. Wer sich die genannten Aktionspläne so durchliest,
bekommt den Eindruck, am 23. Juni würden nicht Tageszeitungen, sondern
Atommüll und Dioxin-belastete Eier frei Haus verteilt werden. Oder dass
gemeinsam mit der „Bild“ auch gleich Diekmann höchstpersönlich
angerauscht käme, der 41 Millionen Haushaltsvorsitzende mithilfe von
Heckler & Koch zur vollständigen Lektüre der Zeitung nötigen würde.
All das entbehrt freilich nicht einer gewissen Komik. Denn offenbar
kommt es nur für die wenigsten „Bild“-Phobiker infrage, das Blatt
schlichtweg in die Mülltonne zu befördern. So wie ich es zum Beispiel
tun würde, wenn man mir unfreiwillig die „Frankfurter Rundschau“ oder
die „Junge Welt“ zukommen ließe. Deren Inhalte interessieren mich zwar
nur mäßig, rufen bei mir allerdings auch keine Enteignungsfantasien oder
übermäßigen Aktionismus hervor. Anders bei vielen „Bild“-Nichtlesern,
die sich plötzlich um die Bäume, die für diese Aktion sterben mussten,
sorgen. Oder auch um den Gewinn, den Springer damit einfahren wird –
aber anstatt dann beispielsweise die betreffenden Anzeigenkunden zu
boykottieren, konzipiert man lieber lustige Schlachtpläne zur
Aufrechterhaltung der Briefkasten-Hygiene. Schlachtpläne, die man doch
auch mal angesichts des Euro-Rettungsschirms, sinnloser Subventionen
oder zweifelhafter „Entwicklungshilfe“ ins Auge fassen könnte, wobei
hier allerdings der obligatorische revolutionäre Touch fehlen würde.
Nun ist es freilich erfreulich, dass sehr, sehr viele Menschen
offenbar wirklich keine anderen Sorgen haben. Andererseits mutet es
dennoch ein wenig irre an, dass eine große Masse Mensch offenbar nicht
damit leben kann, an einem einzigen Tag im Jahr eine andere Meinung im
Briefkasten vorzufinden. Oder zumindest nicht dazu fähig ist, diese zu
ignorieren. Insofern ist die am 23. Juni stattfindende
Konfrontationstherapie ein wunderbares Signal. Nicht wegen „Bild“ an
sich, und auch nicht, weil sie so manchen in den verdienten Wahnsinn
treibt – sondern weil sie zeigt, dass Meinungsfreiheit sich nicht
enteignen oder wegplärren lässt.
Zuerst erschienen im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European".
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