Oftmals liest und hört man ja, der Westen im Allgemeinen, die 
Deutschen im Besonderen, hätten nichts aus der Geschichte gelernt. Das 
stimmt aber gar nicht. „Nie wieder Krieg!“ wäre etwa eine von vielen 
Lehren, die nicht nur von Rentnern auf den Ostermärschen verkündet wird.
 Hinzu kommen „Nie wieder Rassismus!“, „Nie wieder Nazis!“ und, nicht zu
 vergessen, „Nie wieder Holocaust!“. All das wurde so gut verinnerlicht,
 dass vor allem die Deutschen mittlerweile spezielle Sensoren entwickelt
 haben, die bei jedem Anflug von potenziellem Holocaust umgehend Alarm 
schlagen.
Demnach lauert der nächste Holocaust an jeder Ecke. Dass er beispielsweise laufend am heimischen Esstisch stattfindet, haben vor ein paar Jahren die sogenannten Tierschützer von peta herausgefunden. Mithilfe der Initiative „Der Holocaust auf Ihrem Teller“
 sollte daher Widerstand gegen die Fleischindustrie, also quasi die an 
Selleriephobie leidenden Nazis von heute, geleistet werden. Und 
wahrlich: Gibt es einen besseren Grund, um umgehend zum Veganismus zu 
konvertieren als den Gedanken an vierbeinige KZ-Häftlinge auf der Pizza?
 Auch und vor allem mit Blick auf die Pelzindustrie, die einen 
„Holocaust am Tier“ betreibt, wie man auf der ein oder anderen 
Anti-Pelz-Demo erfährt? Eben.
Doch natürlich droht der nächste Holocaust nicht nur in Mastanstalten. Auch in der Schweiz könnte es bald so weit sein. Dort nämlich schmückten sich vor einiger Zeit rund 2.000 Demonstranten
 mit einem gelben Juden-, pardon, „Muslimstern“, um gegen Islamophobie 
aufzubegehren. Wohin diese führen kann, verrät der gelbe Stern dabei so 
offenkundig, dass selbst die geistigen Schlusslichter der „Nie 
wieder“-Fraktion es schlicht nicht übersehen können. Die Muslime sind 
also die neuen Juden, wenn auch ohne Reichspogromnacht, Berufsverbote 
und jahrtausendübergreifende Verfolgung. Man muss es ja nicht so genau 
nehmen.
Zurück in Deutschland geht es allerdings noch schlimmer zu. Denn dort gibt es nun eine neue Partei, die sich „Alternative für Deutschland“ nennt und nicht etwa konstruktive Kritik erntet, sondern freilich erneut Schande über das Land bringen könnte. Das zumindest hat sinngemäß ein couragierter Autor der „Süddeutschen Zeitung“ enthüllt.
 Um die Machtergreifung schon im Vorfeld zu verhindern, deckte er eine 
fatale Verbindung zwischen der AfD und der „Jungen Freiheit“ („scheint 
das Hausblatt der AfD zu sein“) auf, die sich wiederum über den NPD-Mann Udo Voigt bis hin zu – ach du Schreck! – Adolf Hitler ausdehnen lässt. Kurz: Es droht eine neue NSDAP. Widerstand, now!
Schließlich muss hierzulande verhindert werden, was in Israel schon 
längst der Fall ist. Dass nämlich die Juden den Palästinensern das 
antun, was ihnen selbst von den Deutschen angetan wurde, weiß 
mittlerweile jeder, vom Vorschüler bis zum lebenden SS-Fossil. Dass die 
Juden dabei den bislang einzigen Völkermord betreiben, der die 
Bevölkerungszahl der zu liquidierenden Gruppe nicht etwa sinken, sondern
 dramatisch ansteigen lässt (1948: 1,4 Millionen Araber in Palästina, 
heute: ca. 4,3 Millionen Araber in den palästinensischen 
Autonomiegebieten), ist dagegen nicht von Belang. Der Glaube versetzt 
eben nicht nur Berge, sondern auch Völkermorde, Ghettos und neue Nazis 
ins Heilige Land.
So jagt also scheinbar ein Holocaust den nächsten, und die 
Neo-Widerständler haben alle Hände voll zu tun, um die nahende 
Katastrophe auf heimischen Tellern, am Mittelmeer und andernorts zu 
verhindern. Andersrum könnte man natürlich auch die Frage stellen, warum
 der Holocaustvergleich, der sich mittlerweile zum westlichen Kulturgut 
entwickelt hat, so ungeheuer angesagt ist. Weil der Holocaust eine 
deutsche Erfindung ist? Aus Effekthascherei, Boshaftigkeit, Kalkül, 
Dummheit? Es wird von allem ein bisschen sein.
Denn offenbar ist es einfach schicker, diverse Anliegen mit Auschwitz
 zu dekorieren und ihnen damit besonders viel Dringlichkeit zu 
verleihen. Dabei gilt es vor allem eines zu beachten: Je weniger 
systematisch gemordet wird, desto eher lohnt sich der Vergleich. Darum 
findet er auch etwa bei den Palästinensern, nicht jedoch bei den Syrern 
Anwendung. Ansonsten kann er aber variabel und universell eingesetzt 
werden. Oder, frei nach Simmel: Es muss fast immer Holocaust sein.
Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen. 
 
 
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