Davos: In Flüchtlingsschuhen in die Tiefgarage

„Ich stelle mir das ganz schlimm vor“, bemerkte Sahra Wagenknecht, als sie sich gemeinsam mit weiteren Oppositions-Kollegen im Oktober vergangenen Jahres in einem „original“ Flüchtlingsschlauchboot zur Spreerundfahrt begab. Sinn der Übung war, „Flucht erfahrbar zu machen“ - was natürlich besonders gut funktioniert, solange die Spree nur bis zu den Knien reicht und die Schwimmwesten TÜV-geprüft sind. Aber derlei Kleinigkeiten spielen keine Rolle, wenn es darum geht, die eigene Betroffenheit vor den Augen und iPhones der Hauptstadtpresse zu demonstrieren.

Wer diese Aktion für den Höhepunkt des angewandten Irrsinns hielt, wird dieser Tage bitter enttäuscht. Denn nun gibt es in Sachen praktische Fluchterfahrung auch eine Deluxe-Version. Die wiederum wird nicht in Berlin geboten, sondern in Davos. Genauer: vor dem Hintergrund des dortigen Weltwirtschaftsgipfels, wo sich jüngst einige „Topmanager“ in eine Tiefgarage begeben haben, um dort Krieg und Flucht nachzuspielen.

Wie genau das aussieht, erfährt man in einem Beitrag von „heute+“, dem „interaktiven Nachrichtenmagazin“ des ZDF, das laut Elmar Theveßen „den Mainstream in Frage stellen“ soll. Siehe hier und hier.

„Die, die sich hier so anbrüllen lassen, hatten eigentlich eine Elite-Treffen in Davos gebucht“ erfährt man eingangs. Tja, so schnell kann es gehen. Eben noch im Konferenzsaal mit Christine Lagarde, nun Endstation Tiefgarage. Wir sehen betroffen wirkende Männer im Anzug und heulende Frauen mit improvisiertem Kopftuch. Im Hintergrund Kameras, im Vordergrund Drill Instruktoren, die „Entwürdigung und Militärwillkür“ verkörpern sollen. „Krawatte noch um den Hals. [Im] Rollenspiel für eine Stunde Flüchtling. Eine Stunde ohne Rechte, ohne Würde, ohne Schutz. Ein Selbsterfahrungsworkshop für die Welt-Elite von Davos“, tönt es bitterernst aus dem Off.

„Wir sind wie Dreck behandelt worden. Die Frauen wurden nicht mal wirklich respektiert“, berichtet eine sichtlich schockierte Teilnehmerin, die den Nahen Osten bislang vermutlich nur aus 1001 Nacht kannte. „Ich hatte den Eindruck, sehr sehr hilflos und sehr sehr ausgeliefert zu sein“, ergänzt ein weiterer Kostüm-Refugee. Sahra Wagenknecht kennt das bereits.

„Chaos und Todesangst, Entwürdigung und Militärwillkür. Die Simulation soll die Torturen der Flucht aus einem Krieg fühlbar machen.“ Und weiter: „Nur wer selber mal in Flüchtlingsschuhen läuft, versteht, worum es wirklich geht.“ Während die Elite im Erdgeschoss lediglich darüber fachsimpelt, soll das Thema „hier unten in der Tiefgarage vor allem die Herzen erreichen. Nach einer Stunde ist der Spuk vorbei, aber die Eindrucke von einer Stunde Flüchtlingsdasein lassen nicht mehr los.“

Ein wenig schade ist nur, dass das ZDF seinen Zuschauern verschweigt, wie es mit den „Topmanagern“ weitergeht, nachdem sie die Flüchtlingsschuhe wieder gegen maßgeschneiderte Lederslipper getauscht und sich an der Austernbar von den Strapazen der Flucht erholt haben. Werden sie einen wütenden Brandbrief an Baschar al-Assad oder Abu Bakr al-Baghdadi schreiben? Ein Sit-In in der Lobby des „Intercontinental“ Hotels in Davos veranstalten, um ein Zeichen für weniger Militärwillkür jenseits der EU-Außengrenzen zu setzen? Oder werden sie gar noch einen Schritt weitergehen und künftige Fluchtursachen im Keim ersticken, indem sie sich bei Barack Obama über den Iran Deal beschweren?

Doch solange der Spuk noch nicht verdaut ist, ließe sich auch vom Büro aus Gesicht zeigen. An dieser Stelle muss es ja nicht gleich der Analphabet sein, den man zum Mindestlohn einstellt. Das Kanzleramt etwa freut sich bekanntlich immer sehr über hundertseitige Milchmädchenrechnungen aus Wirtschaftskreisen, die einen positiven Effekt von konsumfreudigen Asylbewerbern auf das Bruttoinlandsprodukt suggerieren – freilich ohne dabei in Frage zu stellen, woher das dazugehörige Taschengeld überhaupt kommt.

Darüber hinaus haben die „Torturen“ in der Tiefgarage noch einen weiteren Vorteil: Wer von einem Top-Management ins andere wechselt, hat mit Sicherheit gute Karten, wenn er bei der Bewerbung neben Aufenthalten in Harvard und Stanford auch „eine Stunde in Flüchtlingsschuhen“ vorweisen kann. War das gute Gewissen einst noch der Linken und denen, die sich dafür hielten vorbehalten, so ist zertifiziertes „gut sein“ mittlerweile zum gesamtgesellschaftlichen must-have geworden, auf das auch der erfahrene Davos-Besucher nicht verzichten will. Ob gut sein oder nur gut aussehen ist dabei zweitrangig – auf die Performance kommt es an.

Auch deshalb sollte das Davoser Reality-Training dringend Schule machen. „Chaos, Todesangst, Entwürdigung: nachts um zwölf am Kölner Hauptbahnhof“ wäre beispielsweise ein hübsches Motto für einen spannenden Selbsterfahrungsworkshop, den man für Silvester 2016/17 einplanen sollte. Wer so lange nicht warten will, könnte auch gleich im persönlichen Umfeld beginnen. Ein Monat in Berlin-Neukölln oder Klein-Marokko in Düsseldorf wäre eine gute Idee, um die „Herzen zu erreichen“. Der Sohn würde von Salem in eine Schule mit Rütli-Hintergrund wechseln, die Tochter bekäme statt Taxi-Geld eine Monatskarte für den öffentlichen Nahverkehr, und am Wochenende vergnügt man sich gemeinsam im nächstgelegenen Schwimmbad. Einen Arbeitstitel für ein solches Rollenspiel gibt es auch schon: „Deutschland fühlbar machen“.


Zuerst auf der "Achse des Guten" erschienen.

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