Gut, ich hätte es vorher wissen können. Tatsächlich war es kein
kluger Plan, am 28.11.2013, dem Freitag nach Thanksgiving, die Westfield
Shopping Mall im Herzen San Franciscos zu betreten. Eigentlich wollte
ich mir dort nur eine Cola besorgen, doch dann kam alles viel schlimmer.
Denn zur gleichen Zeit wurde landesweit der „Black Friday“ zelebriert:
Der Tag, an dem traditionell schon vor Sonnenaufgang Völkerwanderungen
in Richtung Innenstadt stattfinden, um dort ein wichtiges Ritual zu
vollziehen: Schnäppchenjagd. Black Friday bedeutet nichts anderes als
landesübergreifender „Sale“.
Daneben läutet er auch die fünfte Jahreszeit ein, nämlich das
organisierte Christmas-Shopping. Jesus wäre wohl wenig erfreut über das,
was die Menschheit anlässlich seines Geburtstags so treibt. Denn was
mir spätestens eine Sekunde nach Betreten des Shoppingtempels
entgegenschlug, war von christlicher Nächstenliebe weit entfernt.
Ungefähr die ganze Bay Area – denn die meisten Amerikaner nehmen sich
an diesem Tag extra frei – trennte mich von meiner Cola bei „Bristol
Farms“ im Souterrain. Und nicht nur die Bay Area, sondern auch deren
Gepäck: Tüten im Zeltformat, die bis oben hin mit „Best Buys“ gefüllt
waren. So nennt der Ami die Trophäen, die er nach der gewonnenen
Schlacht zwischen Menschenschlangen, Wühltisch und Kasse stolz von
dannen schleppt.
Westfield jedenfalls mutierte zum Battlefield. Gierige Menschenmassen
allerorts, dazwischen die begehrten Best Buys und das
Security-Personal. Denn so ein Schnäppchen kauft man nicht einfach, man
erkämpft es sich – fast immer unter Zuhilfenahme von Ellbogen, manchmal
aber auch mit Pfefferspray. So mancher Black Friday endete schon in
bewaffneten Auseinandersetzungen und mit totgetrampelten Verkäufern.
Dicht gedrängt zwischen Tüten und Hausfrauen in Gordon-Gekko-Stimmung
musste ich an Deutschland denken. Das Land der professionellen
Gier-Kritiker, die Solidarität predigen und sich von der Abschaffung der
Gier Erlösung erhoffen. Sie selbst sind – nach eigenen Angaben – nie so
gierig wie die Amis. Das überzeugt mich aber nicht. Sobald Aldi eine
PC-Sonderaktion startet oder H&M eine Lagerfeld-Kollektion
feilbietet, passiert im Grunde auch nichts anderes.
Ich persönlich wollte an diesem Tag nur eine Cola. Alle anderen
hingegen waren schlauer: Sie suchten gezielt ihren Vorteil. Das machen
Menschen so, gottlos und individuell. Eigentlich ist die Gier sogar ein
cleverer Schachzug der Evolution: Sie trieb den Steinzeitmenschen aus
seiner Höhle und sauberes Trinkwasser durch die Leitungen. Ihr
verdankten wir einst die Erfindung der Glühbirne und der Eisenbahn,
heute sorgt sie für Medikamente, Microsoft und mobiles Internet. Selbst
so verschiedene Wesen wie Lloyd Blankfein von Goldman Sachs, Bill Gates
und Ihr Bäcker von nebenan haben eines gemeinsam: die Gier. Nach Geld,
Wohlstand und Fortschritt.
Nicht die Gier ist der Anfang vom Ende, sondern deren Abwesenheit.
„Weniger ist mehr“ und Bescheidenheit helfen weder bei der Gründung
eines Tante-Emma-Ladens noch auf dem Weg zum Nobelpreis. Auch nicht bei
der Beschaffung erfrischender Cola, die mir übrigens trotzdem gelang.
Der inneren Heuschrecke sei Dank.
Zuerst in der „The European“-Printausgabe 3/2014 erschienen.
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