2011 war nicht nur das Jahr der Krisen, sondern auch ein Jahr, in dem
das deutsche Expertentum für moralische Angelegenheiten eine
regelrechte Renaissance erlebte. Blutbäder, Naturkatastrophen, Fußnoten –
nichts und niemand war vor fachgerechter Sektion durch deutsche
Sesselstrategen, Qualitätsjournalisten, Hinter- und Vorderbänkler
sicher. Und da 2011 nicht nur so einige Despoten ins Jenseits (oder
wenigstens ins Exil), sondern zugleich auch der Euro ins Abseits und die
Atomkraft aufs Abstellgleis befördert wurden, hatte das bundesdeutsche
Expertentum freilich alle Hände voll zu tun.
So brach gleich Anfang des Jahres plötzlich der Arabische Frühling
aus, der die deutschen Experten in ihren warmen Sesseln kalt erwischte.
Das war quasi die Warm-up–Phase. Da saß man irgendwie leicht verwirrt
vor dem Fernseher, guckte zuerst den Menschen auf dem Tahrir-Platz und
anschließend Jürgen „Der Westen ist schuld“ Todenhöfer im
öffentlich-rechtlichen Stuhlkreis zu, wobei Letzterer natürlich schon
immer wusste, dass all das so kommen würde. Weshalb er dann zuvor nichts
dazu verlauten ließ, bleibt wohl sein Geheimnis.
Kurz darauf ereilte Deutschland dann das nächste Unheil – diesmal in
Form einer Naturkatastrophe in Japan. Dass das schwere Erdbeben in
Verbindung mit einem Tsunami nicht nur Tote, Verletzte und Zerstörung
nach sich zog, war dabei weniger relevant als die Tatsache, dass
zufällig auch noch ein AKW involviert war. Es
folgte bundesweites Abschalten – nicht nur im Kanzleramt, sondern auch
in den Redaktionsstuben, wo zugleich ein Super-GAU
herbeigeschrieben wurde, der mit der Realität in Japan nur wenig zu tun
hatte. Doch der deutsche Experte wusste sich zu helfen: Er investierte
in Jodtabletten und Geigerzähler, so dass fast der Eindruck entstand,
Fukushima wäre nicht etwa Tausende von Kilometern entfernt, sondern
vielmehr irgendwo nahe der mecklenburgischen Seenplatte lokalisiert.
Wenig später entzündete sich auch schon der nächste Brandherd.
Natürlich nicht in Deutschland, sondern im fernen Abottabad, was das
nationale Experten-Kommando freilich nicht vom umgehenden Einsatz
abhielt. Die Leiche des 54-jährigen Familienvaters und Massenmörders
Osama bin Laden hatte noch nicht mal den Grund des indischen Ozeans
erreicht, da setzte bundesweit schon kritisches Denken ein. Wurde hier
etwa Völkerrecht gebrochen? Entsprechen Seebestattungen der islamischen
Lehre? Und überhaupt, was ist das für ein Land, in dem der Tod eines
Menschen derart bejubelt wird? Fragen über Fragen, die den
Sesselstrategen stählten und seine Fähigkeit zur (doppel)moralisch
basierten und faktenresistenten Urteilsbildung trainierte.
Kein Wunder also, dass man unmittelbar nach dem Blutbad, das sich im
August dieses Jahres in Norwegen ereignete, nicht nur wusste, welche
Bücher der blonde und zweifellos irre Anders Breivik gelesen hatte,
sondern auch, wie möglicherweise ideologisch motivierte Gemetzel künftig
verhindert werden sollten. Durch eine „Neudefinition der
Meinungsfreiheit“ beispielsweise, wie es explizit in der „SZ“
nachzulesen, und implizit den Worten der Berliner Elite zu entnehmen
war.
Nun mag es ja durchaus erfreulich sein, in einem Land zu leben, wo
ein jeder je nach Anlass zum Experten für Völkerrecht, Blutbäder aller
Art, Despotie und atomare Strahlung mutieren kann. Dumm nur, dass die
Elite der Sesselstrategen dabei offenbar völlig vergisst, sich um den
Dreck zu kümmern, der sich derweil vor der eigenen Tür staut. So
vernebelte allein der Freudentaumel rund um den Arabischen Frühling die
Sicht auf deutsche Realitäten. Zum Beispiel auf die florierenden
Wirtschaftsbeziehungen zum iranischen Regime, wo nicht nur
demokratietechnisch gesehen Eiszeit herrscht, sondern auch fleißig an
Atombomben gebastelt wird. Letzteres haben deutsche Medien übrigens
offenbar erst heuer, und damit mit einer lächerlichen Verspätung von
lediglich einigen Jahren, herausgefunden.
Macht aber nix, schließlich gibt’s zu Hause schon genug Probleme mit
der lieben Atomkraft. Deshalb gilt die Devise: Abschalten statt
Nachdenken, und um die künftige Energieversorgung kümmert sich dann eine
Ethikkommission. Deren primäre Aufgabe besteht darin, einen
christlich-ökologisch-risikoarm-nachhaltigen Konsens zu finden, mittels
dessen am Ende des Jahrhundert-Dialogs dann doch noch alle Lichter an
bleiben sollen. Klingt unmöglich, ist es vermutlich auch.
Ähnlich überfordert zeigte sich ebenfalls der Verfassungsschutz, von
dem man spätestens jetzt annehmen darf, dass dessen Beamte in so mancher
Filiale offenbar lieber Sudoku-Rätsel lösen, anstatt ihrer Arbeit
nachzugehen. Nur so zumindest ließe sich erklären, weshalb über Jahre
hinweg niemand eine dreiköpfige Neonazi-Zelle von ihrem Vorhaben, sich
quer durch Deutschland zu morden, abhalten konnte. Und während man den
Norwegern per Ferndiagnose noch gute Ratschläge für den Kampf gegen
rechtsextreme Einzeltäter zukommen ließ, scheiterten deutsche Beamte und
Reporter an rechtsextremen Serienmorden, die vermutlich noch eher zu
stoppen gewesen wären als ein irrer Bio-Bauer im Alleingang.
Daher war 2011 vermutlich doch auch ein bisschen das Jahr der Krise –
zumindest der deutschen Identitätskrise. Sie erschien in Form eines
Geisterzugs, der plan- und ziellos durch die deutsche Landschaft rast
und dennoch freudig von Politik, Medien und Zivilgesellschaft bestiegen
wird. Und wer sich schon im eigenen Lande nicht zu helfen weiß, der
übertüncht die Hilflosigkeit, indem er anderen gute Ratschläge gibt, die
er selbst offenbar nicht befolgen kann. Wünschenswert wäre das
Gegenteil.
Zuerst erschienen auf "The European" - im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan".
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Super!!!!
AntwortenLöschenGähnnn,
AntwortenLöschendas anhören irgendwelcher Experten ist genauso langweiliglich wie die hiesige Experten-Schelte.
Vorallem behaupten Sie immer, dass "Deutschland" an den Lippen, der von Ihnen kritisierten Experten gehangen hätte. Irgendwie ist dann vorallem der Übergang im letzten Teil des Artikels zu Breivig und den Nazi-Morden auch sehr forciert. Was haben die ganzen "Experten" jetzt eigentlcih miteinander zu tun?
Ansosnten mag ich ja Karl-Kraus-mäßige Rundumschläge, aber hier wäre weniger doch mehr gewesen.
Sehr geehrte Frau Pyka!
AntwortenLöschenSie haben mit Ihrem Urteilsvermögen bezüglich der "Vor-kommnisse" im Jahr 2011 exakt ins Schwarze getroffen. Das sehe ich genauso. Bitte bringen Sie weiterhin das auf den Punkt, was hier in Deutschland absolut falsch läuft. Vielen, vielen Dank.
Übrigens: Die EEG-Lobby läßt mittlerweile jede andere Lobby im Schatten stehen. Bitte weiter so!!
Sehr schoen geschrieben, gefaellt mir
AntwortenLöschenDeutschland ist das Land der selbsternannten EXPERTEN. Jeder der weiß, dass es bei Regen nass wird und dass es im Winter kalt werden kann ist - KLIMAEXPERTE!
AntwortenLöschenJeder der eine Glühlampe auswechseln kann und weiß wie man einen Elektrozähler ablesen kann ist - ENERGIEEXPERTE!
„Das Schlimmste an vielen Menschen ist nicht ihre Unwissenheit, sondern dass sie so vieles wissen, was nicht stimmt!" (Sir Peter Ustinov 1921 - 2004) plessini
Es gab auch EHEC-Experten, Dioxin- und Gen-experten. Insgesamt scheit es mir, dass in D. das Expertentum für die Lösung ausländischer Probleme so zunimmt, dass die Probleme im eigenen Land etwas zu kurz kommen.
AntwortenLöschenEs ist eine Freude, Ihre Beiträge zu lesen, es gibt sicher Menschen, die schon süchtig danach sind.
meine fresse...was ein debiles geschwurbel..die kommentator_innen stehlen dem froilein fast die show.aber hauptsache sie hat die haare schön^^
AntwortenLöschenscharfzüngig amüsant gut !
AntwortenLöschenMan kann sich dem ersten Kommentar uneingeschränkt anschließen:
AntwortenLöschenSUPER!!!!
Leute wie Biernoth_in sind Ihnen einfach intellektuell nicht gewachsen. Zu mehr als Beschimpfungen und Beleidigungen reicht es bei solchen Mensch_innen nicht.
Ein wundervoller Jahresrückblick! Vielen Dank!
AntwortenLöschenDu hättest mich wieder einige Male zum Lachen gebracht, wenn das Thematisierte nicht so traurig gewesen wäre.
Nur in einem winzigen Punkt möchte ich dir widersprechen. Die Katastrophe in Fukushima wurde medial zwar sicherlich zu sehr aufgebauscht, trotzdem handelt es sich dabei nicht nur um einen herbeigeschriebenen Super-GAU.
Die Situation scheint zwar aktuell wieder unter Kontrolle zu sein. Ich glaube aber, man durchaus von einem Super-GAU sprechen. Selbst wenn es der Definition des Begriffs widerspricht, dass es noch schlimmer hätte kommen können.