Kein Blut für 9,90-€-Tops!

Allmählich glaube ich ja, dass der immer komplexer werdende Alltag viele Menschen überfordert. Nachvollziehen kann ich das übrigens auch – gibt es doch so einige kleine und große Herausforderungen, die quasi allerorts auflauern. Eine davon hat früher mal Spaß gemacht und nennt sich Konsum. Denn seit die Menschen nicht mehr einfach nur Einkaufen oder Shoppen gehen, sondern zu „kritischen Verbrauchern“ avanciert sind, gleicht das einstmals simple Konsum-Prozedere (umsehen, zugreifen, zahlen, fertig) einem Marsch durch vermintes Terrain.

Sowohl die Obstabteilung als auch die Kleiderstange bilden längst schon ein Stück politische Weltbühne. Und wer ein Hemd kaufen möchte, kauft nicht einfach nur ein Hemd, sondern entscheidet damit auch wahlweise über das Schicksal unserer Gesellschaft, der Erde, gar der Menschheit – also eigentlich über das große Ganze.

Nun bin ich selbst zwar kein kritischer Verbraucher, eher das Gegenteil. Vielleicht eine Art hedonistisch veranlagter Philokonsument, sofern es das noch gibt. Trotzdem kann ich mir lebhaft vorstellen, wie strapaziös so ein Leben sein kann, in dem der Griff ins Regal, der Gang zur Umkleidekabine und der Klick auf den „Kaufen“-Button politische Handlungen sind. Was man da nicht alles beachten muss! Der kritische Verbraucher käme beispielsweise niemals auf die Idee, Bücher bei Amazon zu kaufen. Denn schließlich hat er mal gehört, der Konzern würde Leiharbeiter in „Arbeitslagern“ halten und diese zur „Zwangsarbeit“ verdonnern. Seitdem besucht er aus Protest wieder „den kleinen Buchhändler“ und arbeitet so an seinem Image als heiliger Schutzpatron der geschundenen Arbeitskräfte.

Noch komplizierter wird es allerdings in Sachen Mode. „Made in Bangladesh“ etwa geht gar nicht. „KIK“ und „C&A“ daher also auch nicht, was allerdings ohnehin kein großer Verlust für das äußere Erscheinungsbild des kritischen Verbrauchers ist. Neuerdings sollte man sich aber ebenso vor „Abercrombie & Fitch“ hüten. Abercrombie möchte nämlich nur attraktive und vor allem schlanke Verbraucher ausstaffieren, weshalb das „Stacy Hoodie“, das „Harley Shine Tee“ und viele mehr nur bis Größe 40 im Angebot sind. Eine himmelschreiende Diskriminierung, wie ich nun höre. Ich persönlich verstehe zwar nicht, warum nun ein solcher Bohei um ein bisschen Unternehmensfreiheit gemacht wird. Zugegebenermaßen weiß ich aber auch nicht, was Menschen daran finden, sich wie ein Maulwurf durch nahezu stockdunkle und überdurchschnittlich beschallte Geschäfte zu tasten, wie es bei Abercrombie der Fall ist. Gegen diese Kundenferne protestiert übrigens niemand, doch das nur am Rande.

Denn abgesehen davon fertigt auch Abercrombie, genauso wie nahezu jede größere Modekette auf diesem Planeten, in Asien. Teils unter abscheulichen Bedingungen, natürlich. Der kritische Verbraucher weiß dafür aber wenigstens ganz genau, wer diesbezüglich an den Pranger gehört: der Kapitalismus. Mal wieder. Ausbeutung sei der „Preis des Kapitalismus“, erfuhr ich etwa neulich bei 3sat. Wie wäre es, zur Abwechslung mal einen anderen Schuldigen aus dem Hut zu zaubern? Sicher, ich kann verstehen, dass es einfacher ist, immer schön „das System“ verantwortlich zu machen. Und gewissermaßen stimmt es auch, dass Wettbewerb zu Billigpreisen führt.

Ich glaube allerdings trotzdem, dass Kapitalismus weniger das Problem und vielmehr die Lösung ist. Der Preis mag ein Faktor im Wettbewerb sein. Doch je mehr kritische Verbraucher es gibt – zumal solche, die auf dem Gebiet der erweiterten Fairtrade-Siegel-Kunde topfit sind –, desto schneller werden die Produktionsbedingungen zum entscheidenden Aspekt. Es ist das gute alte Angebot-und-Nachfrage-Prinzip, das dahingehend erfolgversprechend sein dürfte. Wer nach dem Motto „kein Blut für 9,90-€-Tops“ lebt, kann sich ja auch woanders einkleiden. Und wer 9,90-€-Tops anbietet, die sich zum Ladenhüter entwickeln, wird dementsprechend handeln. Wie gut dieses Prinzip andernorts funktioniert, konnte man übrigens zuletzt bei Amazon beobachten, wo der ein oder andere Missstand in Folge der dazugehörigen Berichterstattung umgehend und im vorauseilenden Gehorsam behoben wurde.

In nicht-kapitalistischen Systemen dagegen wäre so etwas unmöglich. Denn wo Anbieter nicht frei konkurrieren, sondern reglementiert und limitiert werden, hat auch der Konsument keine Wahl. Und müsste im Zweifel selbst stricken. Mag sein, dass kritische Verbraucher das im Notfall auch täten. Aber eigentlich sollten sie sich besser darüber freuen, dort zu leben, wo sie die Wahl – und damit auch ein Stück weit Macht – haben.



Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.

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