In Deutschland kommt es öfter mal zu sogenannten „Vorfällen“
antisemitischer Natur. Meistens laufen sie so ab, dass Juden allein
durch ihre Existenz den Antisemiten so sehr provozieren, dass dieser
quasi gar nicht anders kann, als dagegen aktiv zu werden. Mal verbal,
mal tätlich, je nach Tagesform. Anschließend beginnt dann gerne und oft
das große Orakeln: War der Jude selbst schuld? Ganz so, wie neulich in Berlin,
wo ein Jude vor einer Disco verprügelt wurde, weil er Jude ist und ein
israelisches T-Shirt trug, was wiederum die Täter „möglicherweise
provoziert“ hätte? Und wenn der Jude gemäß offizieller Ansicht nicht
schuld ist: Was tut man nur, um dem Antisemitismus Herr zu werden?
Fragen, die derzeit auch im beschaulichen Offenbach gestellt werden.
Nachdem dort nämlich vergangenen Sonntag ein Rabbiner in einem
Shoppingcenter von circa sechs bis acht „südländisch aussehenden
Jugendlichen“ zunächst antisemitisch beschimpft, daraufhin geschubst,
genötigt und umzingelt wurde, herrscht nicht nur berechtigtes Entsetzen,
sondern auch Rätselstimmung. Man wolle derartige Angriffe nicht dulden,
so die Ansage – wie das allerdings praktisch funktionieren soll, ist
dagegen noch nicht bekannt.
Nun hat Woody Allen mal gesagt, er bevorzuge gegen Antisemitismus
Baseballschläger. In Deutschland präferiert man dagegen
Antisemitismusforscher. Und so verwundert es auch nicht, dass sich
angesichts des Offenbacher „Vorfalls“ jüngst Juliane Wetzel vom Berliner
Zentrum für Antisemitismusforschung, die Allzweckwaffe gegen
Judenfeindlichkeit schlechthin, zu Wort meldete. Genauer: Im Gespräch
mit der „Offenbacher Post“, das mit den tragenden Worten „Wie gefährlich ist der Antisemitismus?“ betitelt wurde.
Wie bedrohlich er nun wirklich sein könnte, dieser Antisemitismus,
behielt Frau Wetzel dann allerdings für sich. Ohnehin könne sie „in
ihren Studien nicht feststellen, dass es mehr Antisemitismus oder gar
eine neue Qualität in Deutschland“ gäbe. Dafür punktet Dr. Wetzel jedoch
mit Zahlen: „Verschiedene demoskopische Erhebungen der letzten Jahre
haben ergeben, dass es eine Latenz antisemitischer Einstellungen bei 15
bis 20 Prozent der Bevölkerung gibt.“ Puh, noch mal Glück gehabt. Keine
Gefahr also. Und übrigens auch kein Interview mit Frau Wetzel, das nicht
durch die magische 20-Prozent-Marke, an der sie seit Jahrzehnten
forscht, bereichert wurde. Ganz so, als hätten wir es ihrem Schaffen zu
verdanken, dass die bundesdeutsche Antisemitenschaft bis dato brav unter
dieser Schwelle rangiert.
Doch Zahlen allein schützen vor Judenhass nicht. Das weiß auch Dr.
Juliane Wetzel, die „bessere Aufklärung bzw. Bildung an Schulen“ gegen
Antisemitismus anwenden möchte. Ein schöner Plan, der sich bei vielen
hauptberuflichen und selbst ernannten Antisemitismus-Gegnern großer
Beliebtheit erfreut. Schlicht, weil er so einleuchtend klingt und
Judenhass auf eine Bildungslücke reduziert. Hätte der Toulouser
Attentäter Mohammed Merah doch mehr über die Juden gewusst, er hätte
bestimmt nicht vier von ihnen ermordet – so die Konsequenz. Dass die
berühmtesten Vertreter des Antisemitismus dagegen sehr genau wussten,
was in der Tora steht oder auch den Unterschied zwischen einer Menora
und einer Chanukkia benennen können, hindert den durchschnittlichen
Antisemitismusforscher keineswegs an seinen Bildungsmanövern.
Vielleicht wäre es nicht nur im Berliner Zentrum für
Antisemitismusforschung an der Zeit, sich solcher profaner Dinge wie zum
Beispiel historischer Kontinuitäten zu vergegenwärtigen. Etwa die,
wonach der Antisemitismus im Laufe seines über zweitausend Jahre
andauernden Bestehens dem immer gleichen Schema folgte. Erst erfolgten
die „Gerüchte über Juden“, freilich verbunden mit Hetze und Propaganda,
um dann mit Ausgrenzung fortzufahren, was meist ganz automatisch zu
Pogromen, Vertreibung und/oder Morden führte.
Wer also den Anfängen wehren will, könnte ja zunächst mal im Rahmen
der etwa vierteljährlich stattfindenden Antisemitismusdebatten etwas
Kluges beisteuern. Die Causa Grass hätte sich da angeboten, ebenso wie
die Causa Augstein. Was den Dichter und den Denker eint, ist der
dargebotene Antisemitismus in der vermeintlich unbedenklichen
Israelkritik-Verpackung – ebenso wie das Verdienst, diesen noch
prominenter im Mainstream platziert zu haben. Theoretisch also ein
schönes Thema für Dr. Wetzel und Kollegen. Praktisch allerdings häufig
der Anlass, eben solchen Kandidaten eine gerade noch koschere Gesinnung zu attestieren.
Kein Wunder, dass da keine Zeit mehr bleibt, um sich antiisraelischer
Tendenzen in der Nahostberichterstattung, antisemitischer Propaganda und
ähnlicher verbaler Späße innerhalb der Bundesrepublik anzunehmen. Nein,
der Antisemitismusbekämpfer als solcher setzt Prioritäten.
Und während sich die berühmten „20 Prozent“ auf diese Weise
Salonfähigkeit erwerben, beschäftigt man sich andernorts seelenruhig mit
Bildungsmaterialen. Die braucht man ja schließlich auch. Vor allem
dann, wenn, wie nun in Offenbach, aus gesellschaftsfähigen verbalen
Angriffen reale Gewalt geworden ist.
Zuerst im Rahmen der Kolumne "Neues aus Meschuggestan" auf "The European" erschienen.
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