"Finis Germania": Sieferles Werk und SPIEGELs Beitrag

Der „Spiegel“ hat „Finis Germania“ von seiner Bestsellerliste gestrichen. Seitdem ist der Titel wieder in aller Munde. Doch muss man es deshalb auch wirklich lesen? Nein. Es sei denn, man teilt die Phantom-Schmerzen des Autors.

 
Dem „Spiegel“ gebührt dieser Tage besonderer Respekt: Indem das Hamburger Magazin das mindestens umstrittene Sachbuch „Finis Germania“ des verstorbenen Historikers Rolf Peter Sieferle von der hauseigenen Bestsellerliste strich, hat sich das Blatt ein Eigentor geschossen, das ihm so schnell keiner nachmacht. Man wolle, so die offizielle Botschaft der Chefredaktion, den Verkauf des als antisemitisch, rechtsradikal und geschichtsrevisionistisch eingestuften Buchs „nicht befördern“. Dies gelte insbesondere insofern, als der Titel durch die Empfehlung eines „Spiegel“-Redakteurs auf der „Sachbuch des Monats“-Liste landete und damit überhaupt erst das Licht der öffentlich wahrnehmbaren Debatte erblickte.

Nun ist es zweifellos erfreulich, wenn der „Spiegel“, der erst neulich ein Ende der „Sonderbehandlung Israels“ forderte und mit Jakob Augstein eine Koryphäe auf dem Gebiet der angewandten Israelkritik im Repertoire hat, sich offensiv gegen Antisemitismus engagiert. Gleichzeitig liegt das Hamburger Magazin in diesem Fall mit seiner Diagnose allerdings auch nicht völlig daneben. „Finis Germania“ besteht zu etwa zwei Dritteln aus kulturpessimistischer Verzweiflung über die Zumutungen der Moderne. Das verbleibende Drittel wiederum versprüht feinsten Schuldabwehr-Antisemitismus – also Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Eine Spielform des Judenhasses, die in jedem Standard-Werk zum Thema unter dem Oberbegriff „Sekundärer Antisemitismus“ zu finden ist und sich vor allem in rituellen Entlastungs- und Relativierungsmanövern entfaltet. Besonders prägnant fasste es der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix zusammen: Auschwitz werden die Deutschen den Juden niemals verzeihen.

Die Phantom-Schmerzen des Rolf Peter Sieferle

Denn nicht nur Massendemokratie und Massenkonsum trieben Sieferle um, sondern ebenso die vermeintliche „Kollektivschuld“ der Deutschen, die sich wie die Erbsünde über Generationen hinweg bis in die Gegenwart erstrecke. Eine Wahnvorstellung, die zwar nicht sonderlich sensibel, vor allem aber nicht besonders originell ist. Die NPD hat sie schon etwas länger unter dem Namen „Schuldkult“ im Programm. Doch auch das mittige Deutschland wärmt die These vom angeblichen Vorwurf einer „Kollektivschuld“ immer wieder gerne auf, etwa in der Frankfurter Paulskirche. Das Besondere an der „Kollektivschuld“-These besteht allerdings darin, dass niemand sie ernsthaft aufstellt – außer eben jenen, die „als Deutsche“ schon länger an der Vergangenheit leiden. Erfunden wurde sie nur deshalb, um sich anschließend umso empörter an ihr abzuarbeiten. Die Mär von der Kollektivschuld erfüllt daher einen wichtigen Zweck: Indem man sie gleich einem Pappkameraden in den Raum stellt und anschließend bestreitet, erfahren allen Sorgen, Bedürfnisse und Nöte, von Schlussstrichen über Relativierungen, einen legitimen Anstrich.

So ähnlich hält es auch Sieferle, für den schon Strafprozesse gegen NS-Verbrecher im besten Rentenalter als Beleg für die imaginierte Kollektivschuld-These gelten. Die Opfer der Shoa? „Ominöse sechs Millionen“. Das Erinnern an sich? Eine „neue Staatsreligion“. Leugner und Relativierer der Shoa befördert der Autor zu „untergründigen Freigeistern“, das Gedenken an sich deutet er wiederum zu ritueller Buße um, die niemals enden werde. So weit, so patinalastig. Von allem Dagewesenen hebt sich Sieferle höchstens im Bereich der praktischen Boshaftigkeit ab. Denn weil die Nationalsozialisten nicht irgendein Volk, sondern ausgerechnet große Teile des „auserwählten Volks“ in die Gaskammern schickten, seien ihm zufolge auch die Deutschen zu einem „negativ auserwählten Volk“ mutiert. Während aber die Deutschen bis in alle Ewigkeit in Sack und Asche gehen müssten und diesem Schicksal nur durch ihre Auflösung entkommen könnten, erdreisten sich die Juden, „ihren ermordeten Volksgenossen in aller Welt Gedenkstätten zu bauen, in denen nicht nur den Opfern die Kraft der moralischen Überlegenheit, sondern auch den Tätern und ihren Symbolen die Kraft ewiger Verworfenheit zugeschrieben wird.“ Eine Frechheit sondergleichen also, aus der Sieferle messerscharf den folgenden Schluss zieht: „Die Menschen, welche in Deutschland leben, haben sich ebenso daran gewöhnt, mit dem Antigermanismus fertigzuwerden, wie die Juden lernen mußten, mit dem Antisemitismus zurechtzukommen.“ Was viele geplagte Germanen schon immer ahnten, wandelt sich an dieser Stelle allmählich zur Gewissheit: Die Deutschen sind die neuen Juden.

Hamburger Eigentore

Doch von alledem völlig unabhängig bleibt das Gegenteil von „gut“ bekanntlich „gut gemeint“. In Sachen „Spiegel“-Bestsellerliste wiederum erweist sich die Devise „Keine weitere Werbung!“ als Marketing-Coup des Monats. Erneut dominiert „Finis Germania“ nicht nur das Feuilleton und damit das Gespräch, sondern auch die vordersten Plätze des „Amazon“-Verkaufsrankings. Im Vergleich dazu fällt die Bilanz des „Spiegel“ deutlich magerer aus. Für den im sachsen-anhaltischen Schnellroda ansässigen Nischenverlag „Antaios“, wo „Finis Germania“ erschienen ist, mag negative PR gute PR sein. Zum „Spiegel“ wird man indes vermutlich nicht gerade deshalb greifen, weil er so schön unangenehme Schlagzeilen verursacht und sich in der Disziplin „Kreative Listenführung“ einen Namen gemacht hat.

Vertrauen ist die Währung des Journalismus. Vertrauen bekommt man nicht geschenkt, man muss es sich erarbeiten. Wenn das Magazin klammheimlich an seiner Bestsellerliste herumdoktert und einen Titel ins Nirwana schickt, entspricht das eher weniger einer vertrauensbildenden Maßnahme. Dabei ist es völlig irrelevant, ob es sich um ein linksextremes Pamphlet, eine salafistische Hetzschrift oder eben um antisemitisches „Schuldkult“-Gejammere handelt. Denn die Aufgabe der „Spiegel“-Bestsellerliste besteht darin, das abzubilden, was ist – und nicht das, was sein sollte. Für Letzteres gibt es bereits Empfehlungslisten, das „Literarische Quartett“ und das Meinungsressort. Wer sich als Journalist mit der Trennung von Fakt und Wunsch schwer tut, sollte vielleicht lieber eine berufliche Neuorientierung erwägen.

Hurra, wir leisten Widerstand!

In Folge dessen, und das wiederum ist ein anderes Thema, kommt es allerdings auch im Kreise der überzeugten und künftigen Sieferle-Leser zu interessanten Formationen. Zwar wurde „Finis Germania“ bereits landauf landab ausführlich besprochen, die wesentlichen Gedanken im Originalton zitiert. Nun allerdings wird die Bestseller-Causa hie und da als Gütesiegel, mindestens aber als Leseempfehlung für das Buch empfunden. „Man wird ja wohl noch selbst denken dürfen“ ist das Gebot der Stunde, „Eigentlich interessiert’s mich ja nicht, aber nachdem der ‚Spiegel‘ es gestrichen hat, musste ich es bestellen“, ist die Hintergrund-Musik, die in sozialen Medien und im Bereich der Amazon-Kundenrezensionen für ein prickelndes Ambiente sorgt. Was der „Spiegel“ „zensiert“, müsse folglich exzellente Ware, mindestens aber einer Bestellung würdig sein.

Das mag zunächst auch ein wenig einleuchten. Seit jeher verfügt das „Verbotene“ über einen ganz besonderen Reiz. Schon Kinder tun am liebsten das, wovon die Eltern ihnen abraten. Folgt man dieser Logik, müsste man allerdings auch umgehend zu den gesammelten Erinnerungen des Abu Bakr Al-Baghdadi oder den Bekenntnissen eines vermummten G20-Randalierers greifen, sobald derlei Werke das Schicksal von „Finis Germania“ ereilen würde. Ein Vorgehen, das der empörten Leserschaft im „Je Suis Sieferle“-Modus eher weniger zuzutrauen ist. Zwar hat der „Spiegel“ erfolgreich dafür gesorgt, dass der Titel nun erneut im Gespräch ist. Aber allein deshalb muss man es ja nicht zwingend besorgen oder seinen Autor mit Salman Rushdie verwechseln. Reine Neugier ist freilich kein Vergehen, Interesse an den Abläufen antisemitischen Denkens ebenfalls nicht. Doch wer seine Bestellung in Schnellroda mitunter zum „Akt der Widerstands“ befördert, hätte wohl kein Löschmanöver durch den „Spiegel“ benötigt. Er hätte so oder so zugegriffen. Das Hamburger Bestsellergate bildet vielmehr die Cocktail-Kirsche auf der Sahnehaube, die dem an sich eher schnöden Bestellvorgang konterrevolutionären Glamour verleiht. Man liest nicht nur, man „wehrt“ sich – zumindest gefühlt, aber das ist ja auch etwas Schönes.

Wem verdankt „Finis Germania“ seinen Erfolg? It’s the reader, stupid!

Ohnehin waren es schon die ersten Kritiken, die den Absatz des Buches erheblich beförderten. Gekauft wird also nicht bloß, was der „Spiegel“ nicht auf seiner Bestsellerliste sehen will. Allein das Label „Antisemitismus“, gepaart mit „völkisch“ und „geschichtsrevisionistisch“, scheint bereits ein überzeugendes Kaufargument gewesen zu sein. Ein Phänomen, das auch die „New York Times“, die sich bereits Anfang des Monats mit „Finis Germania“ befasste, zu erklären versuchte:

„When the German literary establishment unanimously denounced Mr. Sieferle’s work as an extremist tract, readers did not nod in agreement. They pulled out their wallets and said, “That must be the book for me.” This is a sign that distrust of authority in Germany has reached worrisome levels, possibly American ones.“

Gut möglich, dass der Verkaufserfolg von „Finis Germania“ rein gar nichts mit denen zu tun hat, die es kaufen, und dafür umso mehr mit den Medien, die es kritisieren. Dieser Logik folgend hätten die Literatur-Kritiker einfach mehr Rücksicht auf die zarten Seelen ihrer ohnehin schon ausreichend geplagten Leser nehmen müssen. Um das „Misstrauen“ nicht weiter anzufachen, sollten antisemitische Gedanken in Zukunft einfach nicht mehr als solche bezeichnet werden. Dann klappt’s auch wieder mit dem Leser.

Wahrscheinlicher ist allerdings, dass „Finis Germania“ in großen Teilen nicht trotz, sondern gerade wegen des Attributs „antisemitisch“ gekauft wurde. Nicht trotz, sondern wegen so stimulierender Formulierungen wie „Mythos Auschwitz“. Womöglich verhält es sich mit der Nachfrage nach Sieferles Werk gar so, wie mit den allermeisten Buchbestellungen auch: Man kauft es, weil man sich davon Antworten auf Fragen erhofft, die einen schon länger nicht loslassen, oder aber weil man die zu Grunde liegenden Annahmen selbst teilt. Weil man also durchaus Geschmack an Sieferles akademisch ummanteltem Schuldabwehrspiel gefunden hat und seine Schmerzen tendenziell teilt. Dementsprechend wäre auch die Ehrenrettung Sieferles, an der seine Leser nun arbeiten, weniger ein „Aufbegehren“ gegen eine mediale Bevormundung, sondern eher ein Akt der Selbstverteidigung. Antisemiten sind schließlich immer die anderen.

Vergangenheitsbewältigung nach deutscher Opferlammart

In diesem Fall wäre allerdings nicht nur die „Medienversagen“-Theorie der „New York Times“ dahin. Auch das heroische Movens, das die Lektüre umgibt, die trotzig anmutende Ausrede, wonach das Vorgehen des „Spiegel“ geradezu dazu zwingen würde, die schmale Schuldkult-Bibel zu kaufen, entfiele vollständig. Und das wäre ja auch irgendwie schade. Oder ernüchternd, je nach dem.

Allerdings ist die Karawane ohnehin längst in andere Sphären weitergezogen. Aktuell betrauert sie auf „Amazon“ die „moderne Bücherverbrennung“, derer der „Spiegel“ sich schuldig gemacht habe. Ein klarer Fall von „Antigermanismus“, wie er in „Finis Germania“ steht. Handelte es sich beim „Schuldkult“-Theoretiker Sieferle gar um einen „neuen Juden“? Kategorisch ausschließen wird seine Fangemeinde das sicher nicht.

Aber vielleicht ist all das auch nur eine Form der Vergangenheitsbewältigung – eine, an der nun insbesondere vom „Schuldkult“ geplagte Jammerdeutsche Gefallen finden dürften.

 
Erinnerung an die Opfer der Shoa? Eine perfide Strategie zur Zerstörung Deutschlands, so das Urteil der "Schuldkult"-Theoretiker
Photo Credit: Dnalor_01, CC-BY-SA 3.0

Zuerst bei den "Salonkolumnisten" erschienen.

1 Kommentar:

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